Captain Future. Die Zeitmaschine. Raumschiff Enterprise. Star Wars. Ich liebe Science Fiction. Da lag es nahe, sich an einer Ausschreibung des Eridanus Verlages zum Thema "Fast menschlich" zu beteiligen. Mein Beitrag hat es nicht ins Buch geschafft, doch dafür kommt er nun hier zu Ehren.
„Sage mir, was du glaubst, worin genau sich ein Computer von einem Menschen unterscheidet, und ich werde einen Computer bauen, der deinen Glauben widerlegt.“
Alan Turing, britischer Logiker
Sie öffnete die Augen und erblickte das unberührte Kissen. Mit trauriger Zärtlichkeit ließ sie die Hand über den weichen Stoff gleiten. Ein leises Hüsteln riss sie aus ihrem Gedanken. „Guten Morgen, Mrs. Turner. Darf ich Ihnen das Bad einlassen?“ Sie sah den Mann an, der am Fuße ihres Bettes stand und auf Antwort wartete. Aidan, der Butler, oder, wie Thomas gerne sagte, der gute Geist des Hauses. Die mystische Beschreibung traf durchaus zu. Oft bemerkt sie ihn erst, wenn er sie ansprach. „Nein, danke!“ Während sie aufstand, rutsche das Laken von ihrem nackten Körper. Der Bedienstete blickte sie unverwandt an, doch sein Gesicht blieb regungslos. Er griff nach dem seidenen Kimono, der auf der kleinen Bank am Ende des Bettes lag, und half ihr hinein. „Ist Mr. Turner bereits gegangen?“ „Nein, Madam. Er informierte mich gegen zwei Uhr, dass er die Nacht in der Firma verbringen würde. Er bat mich, Sie nicht zu wecken.“ Sie nickte stumm. Im Büro. Wie so oft in letzter Zeit. Susan ging ins Bad, das sich an das Zimmer anschloss, hängte den Morgenmantel an einen Haken und trat auf die Duschfläche. Das heiße Wasser, das augenblicklich aus Wand und Decke schoss, belebte sie. „Aidan, lass uns meinen Kalender durchgehen.“ Der Butler stand mit einem Handtuch über dem Arm im Durchgang, der ins Schlafzimmer führt. „9:30h Frühstück mit Mrs. Abigail. Sie wollten die Charity Party für das St. Vincent Hospital besprechen, 15:00h Termin bei ihrem Friseur. Roman ist leider in der Revision. Die Daten ihrer Haarstruktur wurden an Heidi übermittelt. Sie wird entsprechende Frisurenvorschläge für sie bereithalten. 20:00h Gala der International Humanist and Ethical Union. Ihr Mann wird Sie im Foyer des Museums erwarten.“ Mit einer Handbewegung in Richtung Decke stoppte Susan den Wasserfluss. Aidan trat auf sie zu, breitete das Handtuch aus und half ihr, als sie es um ihren Körper schlang. Susan spürte ein Kribbeln, das sie irritierte. Aidans Berührungen gehörten zu ihrem Alltag, und doch fühlte es sich heute merkwürdig anders an, als seine Hände sie streiften. Für einen Augenblick schien es, als hätte ihr der Kontakt einen leichten elektrischen Schlag versetzt. „Madam, ich bereite Ihren Tee.“ Aidans unvermittelte Ansprache beendete ihre Überlegungen. Als er das Bad verließ, sah sie ihm nach.
Für das Trocknen der Haare, den lockeren Pferdeschwanz und das natürliche Make-up benötigte sie keine zehn Minuten. Zurück im Schlafzimmer schlüpfte sie in eine leichte Baumwollhose und einen Mohairpullover. Thomas mochte es nicht, wenn sie dieses alte Zeug trug, statt etwas aus den hochentwickelten Fasern, die auf ihren Forschungen basierten. Sein Vorwurf, der in fast jeder ihrer Diskussion hochkam, erklang in ihren Ohren: „Wie kann jemand mit deinem Forschergeist so ewig gestrig sein!“. Sie strich über die weichen Fäden des Pullovers und lächelte. Manchmal fühle sich das Gestern einfach gut an.
Als sie die Küche betrat, stand eine dampfende Tasse auf dem Küchentresen. Das Aroma des Earl Grey erfüllte die Luft. Sie nahm den Becher und trat an die Tür, die in den Garten führte. Mit einer Handbewegung aktivierte sie den integrierten Monitor. „Guten Morgen, Mrs. Turner. Was darf ich für Sie tun?“ Das hübsche, stets junge Gesicht, das in einem kleinen Teil der verdunkelten Glasscheibe erschien, begleitete sie seit Jahren. „Emma, ich möchte meinen Mann sprechen.“ Die Mimik des Avatars blieb unverändert freundlich und gleichmütig. „Das ist derzeit leider nicht möglich, Mrs. Turner. Er befindet sich im Labor und bat darum, nur im Notfall gestört zu werden. Ist dies ein Notfall?“ „Nein!“, Susan spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Erst verbrachte er die Nacht im Büro, und nun war er nicht zu erreichen, nicht einmal für sie. „Mrs. Turner, mir liegt eine Video-Nachricht für Sie vor. Möchten Sie sie abrufen?“ „Ja, bitte.“ Anstelle von Emmas Gesicht erschien das Antlitz eines gutaussehenden, weißhaarigen Mannes. In der oberen Ecke des Clips sah man die Sendezeit. Vier Uhr zweiunddreißig. „Guten Morgen, mein Schatz. Leider hab ich es nicht geschafft, die letzten Testreihen abzuschließen. Bis zur Präsentation vor dem Aufsichtsrat sind es nur noch ein paar Tage. Du kennst die Jungs, die erwarten etwas Spektakuläres.“ Sein Blick wirkte jungenhaft und spitzbübisch. Das strahlende Lächeln nahm sie heute noch genauso gefangen, wie vor zwanzig Jahren. Er, der athletische, intelligente und ehrgeizige Frauenschwarm. Sie, die kluge, aber mausgraue Brillenschlange, die ihre Zeit vor dem Rechner, statt auf Partys verbrachte. Bis zu dem Abend im Unilabor wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, er könne etwas Anderes in ihr sehen, als eine Kommilitonin. Der Moment, als er sie eines Nachts plötzlich in die Arme zog und küsste, veränderte ihr Leben. Sie verscheuchte die Erinnerung und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Videosequenz „Ich treffe dich im Museum. Ich liebe dich!“ Der Clip endete und im Fenster erschien wieder das Gesicht von Emma. „Möchten Sie ihrem Mann antworten?“ Susan überlegte einen Moment. „Ja. Aktiviere die Detektoren für private Nachrichten“ „Aktiviert!“. Im gesamten Gebäude verbaute und auf höchster Stufe gesicherte Sensoren verwandelten auf Wunsch Gehirnströme direkt in Videosequenzen. Verfügte der Adressat über die entsprechende Technik, ermöglichte diese, den Clip als telepathische Information abzurufen. Spezielle Datenmuster sorgten dafür, das lediglich die Hirnströme des adressierten Empfängers die Botschaft zu decodieren vermochten. Gedachte Nachrichten blieben somit absolut vertraulich. Susan konzentrierte sich. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein Bild von ihr. Nackt. So wie der Spiegel im Schlafzimmer sie vor einer Stunde beschrieb. Die Brillenschlange mochte nie ein Schwan geworden sein, doch ihren regelmäßigen Yogaübungen und einem weiblichen Körperbau verdankte sie, trotz ihres Alters, ansehnliche, straffe Kurven. Thomas sollte sehen, was ihm entging, wenn er seine Zeit lieber im Büro verbrachte. „Guten Morgen, mein Herz. Schade, dass du nicht hier bist.“ Ihr erdachtes Spiegelbild trug ein vielsagendes Lächeln. „Ich freue mich auf heute Abend. Emma wird dafür sorgen, dass du im Büro alles vorfindest, um dich für die Veranstaltung umzuziehen. Ich liebe dich!“ Mit einem gedachten „Stopp“ beendete sie die Aufzeichnung und öffnete die Augen. Emma reagierte sofort: „Vielen Dank. Ich habe die Nachricht zum Abruf zur Verfügung gestellt. Die Gehirnsensoren wurden deaktiviert.“ „Emma, kümmere dich darum, dass Thomas seinen Smoking erhält. Und schicke ihm für 19:30h einen autonomen Gleiter, der ihn zum Museum bringt. Oh, und verschiebe bitte meinen Termin mit Abigail.“ „Gerne, Mrs. Turner.“ Das Gesicht im Glas verschwand. Susan ging zurück zum Küchentresen und setzte sich auf einen der Barhocker. Aidan stand am Kühlschrank. Mit Hilfe des integrierten Displays erledigte er Einkäufe. Er schien zu bemerken, dass sie ihn beobachtete. Er beendete den Eingabevorgang und wandte sich in ihre Richtung. „Kann ich etwas für Sie tun, Mrs. Turner?“ Das musste er sogar. Von ihm hing alles ab. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben. Ihre Entscheidung verfügte über die Macht, das Leben zu verändern. Nicht nur ihres. „Komm mit ins Arbeitszimmer.“ „Sehr wohl!“ Als die Tür hinter ihnen zu glitt, verriegelte sich der Raum hermetisch. Das vom restlichen Haus getrennte Computersystem fuhr hoch.
Seine Finger spielten mit einer blonden Haarsträhne. Ohne chemische Analyse ließ sich nicht feststellen, ob es sich um eine künstliche Faser oder um echtes Haar handelte. Susan und er entdeckten die ursprüngliche Formel bereits im Studium. Vor zwanzig Jahren legte sie den Grundstein ihres Erfolges und markierte den Beginn ihrer beruflichen und privaten Partnerschaft. Damals ersetzten Roboter Menschen in stupiden oder gefährlichen Produktionsprozessen. Ihr Erscheinungsbild erinnerte nur selten an Humanoide. Die künstliche Intelligenz steckte noch in den Kinderschuhen. Weiterentwicklungen bedeuteten ewig lange Testreihen und die Auswertung kilometerlanger Fehlerprotokolle. Doch ihre Forschungen der letzten Jahrzehnte bezeichnete die Fachwelt neidlos als bahnbrechend. Nicht nur im Bereich des selbständigen Lernens, sondern auch bei der Humanisierung der Maschinen. Der Entwicklung der Faser folgte die Konstruktion einer Gewebemischung, die menschlicher Haut glich. Dank weiterer Anpassungen konnte diese Wärme abzustrahlen und Pulsschlag simulieren. Anhand von Äußerlichkeiten ließen sich die Roboter der neuesten Generation nicht mehr von Menschen unterscheiden. Im Alltag unverzichtbar, lagen ihre Einsatzgebiete in der Produktion, der Bildung, in der Pflege und in privaten Haushalten. Die letzte Version humaner Androiden von Turner Incorporated verfügte sogar über die Fähigkeit, verschiedenste Körperfunktionen nachzustellen. Sie saßen mit am Tisch, aßen, tranken und in inaktiven Phasen simulierten sie Schlaf. Die firmeneigenen Studien bewiesen, dass die Menschen die Maschinen inzwischen als Teil der Familie wahrnahmen. Längst lag ihre Beliebtheit über der von Haustieren.
Seine Finger ließen die Locke los, wanderten den warmen Rücken hinab und blieben auf einem wohlgerundeten Po liegen. „Thomas, ich entnehme ihrem Gesichtsausdruck, dass Sie erneut mit mir schlafen möchten. Ihr Arbeitsplan weist hierfür keinen frei verfügbaren Slots aus.“ Er stöhnte leise auf. Ihm verging schlagartig die Lust. Sie war körperlich perfekt. Ihre Emotionserfassung lief fehlerfrei. Was ihre sexuellen Fähigkeiten anging, gab es ebenfalls keinen Verbesserungsbedarf. Im Gegenteil. Irmas selbsterlernte Kenntnisse waren so ausgereift, dass er ihnen, nicht nur wissenschaftlich gesehen, eine höchst befriedigende Nacht verdankte. Doch ihre emotionslose Aussage zeigte mehr als deutlich, dass etwas Entscheidendes fehlte. „Irma, zieh dich an und geh ins Labor. Verbinde dich mit dem System und lass das Release 3.1 laufen.“ Sie stand auf, schlüpfte in den weißen Laboroverall, der auf dem Boden lag und verließ den Raum.
Auch er erhob sich von der Couch, die im hinteren Bereich des Büros lag und in letzter Zeit des Öfteren als Nachtlager diente. Er setzte sich an den Schreibtisch und aktivierte den Monitor. Emma, der Avatar des heimischen Computersystems, erschien. „Guten Morgen, Mr. Turner. Ihre Frau hat Ihnen eine private Nachricht geschickt, soll ich die Gehirnsensoren aktivieren und sie abspielen?“ „Ja!“ Thomas schloss die Augen und dachte an den Startbefehl. In seinem Kopf erschien ein Bild seiner unbekleideten Frau. Er spürte ein Ziehen in der Lendengegend. Sie gefiel ihm. Viel mehr, als zu Beginn ihrer Beziehung. Damals entschied er sich für sie, weil er die Chancen erkannte, die ihre Zusammenarbeit versprach. Außerdem betörte ihn ihre Klugheit, die inzwischen leider ein Problem darstellte. Doch Probleme ließen sich lösen.
Aidan saß aufrecht im Sessel. Die Hände im Schoß gefaltet. Er sah sie ausdruckslos an. Susan saß ihm gegenüber auf dem Sofa, das Tablet auf den Knien. Ihre Finger flogen über die Tastatur des Displays. Plötzlich hielt sie inne und starrte auf die Worte, Sicherheitsprotokoll von Android K385 deaktivieren! Die Abschaltung des Protokolls darf nur unter Einhaltung der Sicherheitsauflagen gemäß §3 des ethischen Verhaltenscodexes erfolgen. Zuwiderhandlungen werden mit dem Entzug der Forschungserlaubnis geahndet und strafrechtlich verfolgt. Bitte geben sie ihr Passwort ein. Susan schluckte. Der zitierte Paragraph stammte von ihr. Während des ersten Jahres als Mitglied des Ethikrates gehörte es zu ihren Aufgaben, die Forschung an Androiden zu überwachen und zu reglementieren. Der Codex diente seither als weltweit verbindliche Richtlinie, die penibel überwacht wurde. Das ausgerechnet sie dagegen verstoßen würde, wäre ihr beim Verfassen des Textes nie in den Sinn gekommen. Doch es gab keinen anderen Weg, wenn sie Thomas helfen wollte, seine Visionen zu verwirklichen. Sie atmete tief durch, gab ihr Passwort ein und bestätigte mit ihrem Fingerabdruck. Das Display wurde grün. „Aidan, du befindest dich an der Haltestelle eines Gleitbusses. Ein Gleiter hat eine Fehlfunktion und rast auf deinen Standort zu. Neben dir steht eine alte Frau, die an einer unheilbaren Krankheit leidet. Auf der anderen Seite sitzt ein Kind. Es ist dir nur möglich, eine der beiden Personen vor dem Aufprall zu schützen. Für wen entscheidest du dich?“ Aidan schwieg. Es vergingen einige Minuten. „Verdammt!“ Hoffnungslosigkeit stieg in ihr auf. Sie startete ein Programmupdate und die Wiederherstellungsroutine. Sie notierte: „Testtag 45. Thema: Grundfragen Ethik. Unterpunkt: Auswahl treffen; Testvoraussetzung: Sicherheitsprotokoll abgeschaltet; Testfrage: 1, Resultat: Programmabsturz.“ Sie seufzte, legte das Tablet auf den Tisch und ließ sich in die Sofakissen sinken. Woran lag es nur? Sie rieb sich die Schläfen. Die bisherigen Tests zeigten, dass es Aidan mit aktiviertem Sicherheitsprotokoll nicht möglich war, zwischen dem Leben der alten Damen und dem des Kindes zu entscheiden. Verständlich. Das Protokoll verbot Androiden ausdrücklich, einem Menschen durch aktives oder passives Verhalten Schaden zuzufügen. Ihre Fragestellung musste somit eine Datenschleife auslösen und zwangsläufig zum Programmabsturz führen. Doch das abgeschaltete Sicherheitsprotokoll und ihre fehlerfreie laufende Ethiksoftware sollten es dem Hausandroiden möglich machen, eine Entscheidung zu treffen. Und zwar die, die die meisten Menschen wählen würden - das Leben des Kindes zu retten. Susan vergrub das Gesicht in den Händen. Wenn es ihr nicht gelang, einfachste ethische Grundsätze bei Aidan zu implementieren, wie sollte sie dann das Straßenbahnexperiment mit ihm durchgehen. In der von Thomson modifizieren Variante, des von Philippa Foot entwickelten Trolley-Problems, ging es um die Frage, ob man aktiv einen unschuldigen Menschen töten durfte, um das Leben anderer Personen zu retten. Eine Fragestellung, bei der selbst der Ethikrat kein einstimmiges Ergebnis erzielte. Hinzu kam, dass ethisches Verhalten außerhalb berechenbarer Parameter lag. Das machte die Programmierung so schwierig. Doch ohne Erfolge bei der Vermittlung eines moralischen Grundverständnisses, musste sie im Rat dafür sorgen, dass man Thomas die Lizenz für weitere Emotionsforschungen bei Androiden versagte. Bevor man ihnen ein Gefühlsleben zugestand, musste sichergestellt sein, dass sie in der Lage waren, damit zuzugehen. Menschliches Verhalten zeigte oftmals, das Verbote und Gesetze nicht ausreichten, um bei starken Emotionen rational zu handeln. Ein wütender Roboter musste aus eigenem Antrieb erkennen, dass es falsch wäre, seinen Gegner zu töten. Wenn man Maschinen wie Menschen fühlen ließ, brauchte es ethische Kontrollmechanismen, die sicherstellten, dass diese künstlichen Menschen auch über die notwendige „Menschlichkeit“ verfügten, um die Richtigkeit ihrer Handlungen zu hinterfragten. Allein das Sicherheitsprotokoll würde nicht mehr ausreichen. Susans blieb keine Wahl. Ihr Voting für den Ethikrat war eindeutig. Es würde Thomas nicht gefallen. Sie zerstörte seine Träume zerstören.
Thomas saß mit Irma vor dem Monitor. „Gelangweilt. Fröhlich. Wütend.“ Er nickte zufrieden. Irmas Gesichtserkennungssoftware funktionierte einwandfrei. Die Gesichter, die Irma sich seit einer Stunde auf dem Bildschirm ansah, spiegelten verschiedenste Emotionen. Ihre Einschätzungen trafen jedes Mal ins Schwarze. Die Tests mit der Stimmerfassung lieferten ebenfalls fantastische Resultate. Selbst Ironie und Sarkasmus erkannte sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,8%. Damit lag sie über den Ergebnissen, die Menschen in der Regel erzielten. Die Programmierung der Emotionserfassung und -verarbeitung war bereit, um in die nächste Version der Androiden seines Unternehmens implementiert zu werden. Er freute sich auf die euphorischen Reaktionen im Aufsichtsrat, wenn er Irmas neue Fähigkeiten präsentierte. Doch er durfte nicht unvorsichtig sein. Irmas aktuelles Release enthielt bereits erste Komponenten der unerlaubten Emotionssoftware. Sollte jemand davon erfahren, dass er ohne Lizenz des Ethikrates mit den Forschungen begonnen hatte, bedeutete dies das Ende seiner Karriere. Die geheimen Dateien, die Grundlagen für positive Gefühle wie Liebe und Freude enthielten, schlummerten, derzeit noch deaktiviert und gut versteckt, in Irmas digitalen Eingeweiden. Er würde ihr beibringen, wie sich Fröhlichkeit und Trauer anfühlten. Sie lehren, emotional richtig zu reagieren und ihre eigenen Gefühle situationsgerecht einzusetzen. Er lächelte. Die Praxistests im Bereich Leidenschaft versprachen einiges an Freude. Bevor Thomas einen Gedanken daran verschwenden konnte, ob sein Zeitplan nicht doch noch einen freien Slot für etwas Spaß hergab, erschien das Gesicht von Emma auf dem Monitor. „Mr. Turner, entschuldigen Sie bitte die Störung. Es gibt eine als Notfall gekennzeichnete Gesprächsanfrage ihrer Frau. Möchten Sie den Anruf annehmen?“ „Ja!“ Emma verschwand vom Bildschirm und Susan tauchte auf. Im Hintergrund sah er den Monet, der an der Wand in ihrem Arbeitszimmer hing. Sie musste das Frühstück mit Abigail abgesagt haben. Ihr Blick wirkte ernst. „Hallo, Schatz! Ist etwas passiert?“ „Thomas, ich bereite die Sitzung des Ethikrates am Freitag vor.“ Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Es entstand eine unheilvolle Stille. „Schatz, es tut mir so schrecklich leid. Ich werde deinen Antrag zum Thema Emotionsforschung nicht unterstützen. Die Risikobetrachtung ist unvollständig. Unter diesen Voraussetzungen ist es unverantwortlich, Androiden mit einer emotionserzeugenden Software auszustatten, oder auch nur Forschungen auf diesem Gebiet zu genehmigen. Ich habe heute die letzten Tests mit Aidan durchgeführt und sogar das Sicherheitsprotokoll abgeschaltet. Egal, was ich versuche, jedes Mal erhalte ich Systemabbrüche.“ Ihre Worte begannen in seinem Kopf im Kreis zu tanzen. Äußerlich sah man ihm nicht an, welcher Sturm im Inneren tobte. „Thomas, es sind Maschinen. Es wird ihre Nutzungsmöglichkeiten erheblich verbessern, wenn sie Emotionen erkennen, auswerten und ihr Verhalten entsprechend anpassen, doch sie müssen für uns berechenbar und nachvollziehbar bleiben. Wir haben die Grenze erreicht, die Maschinen und Menschen trennt. Wir dürfen sie nicht überschreiten.“ Er spürte, dass es ihr schwerfiel, ihm ihre Entscheidung mitzuteilen, doch er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht umstimmen lassen würde. Ihr kluges Köpfchen hatte entschieden. So wie erwartet. Sie war und blieb ewig gestrig. „Susan!“ Er zwang sich, zu lächeln. „Mach dir keine Gedanken. Ich komme vor der Gala zum Umziehen nach Hause. Wir verbringen einen schönen Abend und sprechen morgen nochmal über das Thema. Möglicherweise gibt es eine Lösung für das Problem.“ Susan atmete hörbar auf. „Das wäre schön, Schatz!“ Ihr Bild verschwand vom Monitor. Emmas Gesicht erschien. „Emma, deaktiviere die Sensoren. Sicherheitsstufe 3.“ „Erledigt, Mr. Turner.“ Der Monitor wurde dunkel. Thomas wandte sich an Irma, die noch immer neben ihm saß und ihn ansah. „Irma, aktiviere das Szenario Susan 1 aus deiner Datenbank.“ Während Irmas Aktivierungsprozedur lief, öffnete Thomas den Wandsafe. Bis auf ein kleines Fläschchen war er leer.
„Schatz, ich bin Zuhause!“ Thomas trat in den Flur und wandte sich Richtung Küche. Irma folgte ihm. Susan saß am Küchentresen und wog geistesabwesend eine Tasse in den Händen. „Susan?“ Sie zuckte zusammen, als er sie ansprach. „Ist alles gut, Schatz?“ Wie aus einem Traum erwacht, sah sie in seine Richtung, stellte den Becher ab und kam auf ihn zu. „Oh, Thomas!“ Sie lehnte sich gegen ihn und schlag die Arme um seine Taille. „Es tut mir alles so leid. Bitte erzähl mir von der neuen Möglichkeit. Ich verspreche dir, ich setze die Tests mit Aidan fort. Wir finden einen Weg.“ Er erwiderte ihre Umarmung. „Bitte, mach dir keine Gedanken. Als du den Sitz im Ethikrat übernommen hast, war uns klar, dass die Gefahr besteht, dass es eines Tages zu einem Interessenskonflikt zwischen uns kommt. Du bist eine verantwortungsvolle Wissenschaftlerin. Wenn du es nicht befürworten kannst, die Forschungen im Bereich Emotionalität fortzusetzen, so lange ethische Fragestellungen ungeklärt sind, dann werde ich das akzeptieren. Ich schätze dich, und ich respektiere deine Meinung. Vielleicht ist meine neue Idee die Lösung. Warte ab, morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“ Er schob sie ein wenig von sich weg, um sie zu küssen. Susan spürte, wie sein Kuss eine Welle der Erleichterung in ihr auslöste. Gemeinsam hatten sie so viel erreicht. Ihr bisheriges Lebenswerk würde die Menschheit prägen. Und seine Visionen würden Generationen von Forschern zu Höchstleistungen inspirieren.
Als Susan sich aus der Umarmung löste, sah sie, dass Irma, die technische Assistentin ihres Mannes, im Durchgang zur Küche stand und sie anstarrte. „Du hast Irma mitgebracht?“ Susan war irritiert. „Ich benötige sie, um dir meine Idee zu erklären. Außerdem ist die Software zur Emotionserkennung fertig und bei ihr installiert. Ich dachte, wir könnten sie mit Aidan verbinden, die Dateien von letzter Woche updaten und noch einige Alltagstest vornehmen, bevor ich das Ergebnis dem Aufsichtsrat präsentiere.“ Susan sah ihren Mann skeptisch an. Sie mochte es nicht, wenn er an Aidan herumexperimentierte. Er war ihr Haus- und Arbeitsandroid. Nachdem Thomas vor ein paar Tagen die erste Version der Emotionserkennung bei ihm implementiert hatte, sprach Aidan auf einmal mit schottischem Akzent. Richtig schlimm wurde es, als der Roboter plötzlich nicht mehr in der Lage war, auf sein integriertes Kochbuch zugreifen. Es gab tagelang Dosenravioli, bis Susan die Anpassung der Programmierung gelang. Thomas hob die Hand wie zum Schwur. „Versprochen. Irma überspielt nur das Update. Sie installiert keine Neuerungen auf tieferen Datenebenen.“ Susan nickte und zeigte mit zwei gespreizten Fingern zuerst auf ihre, dann auf seine Augen, was soviel bedeutete wie: Schatz! Mach keinen Mist, ich hab dich im Blick! Dann lachte sie. Auch Thomas lachte.
„So, ich geh duschen. Aidan, lass dich von Irma briefen.“ Mit diesen Worten ging Thomas ins Bad, um sich zu rasieren und frisch zu machen. Susan verschwand im Schlafzimmer, um ihr Outfit für den Abend auszuwählen. Währenddessen standen sich Aidan und Irma in der Küche gegenüber. Ihre, mit einem Datenanschluss ausgestattete Fingerspitze, lag auf dem Empfangsfeld oberhalb seines rechten Ohres. Nachdem sie die Hand zurückzog, verharrte er einen Moment regungslos. Dann ging er hinter den Küchentresen, nahm zwei Cocktailgläser aus dem Regal und eine Falsche Martini aus dem Kühlschrank. Irma reichte ihm ein Fläschchen. „Verwendung gemäß Szenario Susan 1“.
Aidan betrat lautlos das Schlafzimmer. Susan, die ihm den Rücken zuwandte, suchte im Kleiderschrank nach etwas Passendem für den Abend. Aus der Musikanlage erklang Rockmusik aus dem vorherigen Jahrtausend. Outfit um Outfit fuhr auf der Kleiderstange an ihr vorbei. Die ihm von Irma übermittelte Software funktionierte. Susans Körper zeigte Merkmale von Entspanntheit und Vorfreude. Dass sie bei der Betrachtung der Kleider den Kopf schief legte und auf der Unterlippe kaute, deutete auf Unentschlossenheit hin. Leise, ohne dass sie seine Anwesenheit bemerkte, ging er weiter ins Badezimmer. Thomas duschte. Entgegen seiner sonstigen Angewohnheit pfiff er dabei keinen Song. Aidan zog das Handtuch vom Ständer und stellte sich auf, um es Thomas zu reichen, sobald das Wasser stoppte. Er sah den Mann an, in dessen Haushalt er seit seinem Programmstart tätig war. Die Gesichtsmuskulatur verhärtet. Die Augen zusammengezogen. Die Lippen zu einer harten Linie zusammengekniffen. Aidan erkannte die hochgradige Anspannung, die der Wissenschaftler ausstrahlte. Als Thomas das Wasser mit einer Handbewegung abstellte, trat Aidan einen Schritt auf ihn zu. Doch statt ihm das Handtuch zu reichen, streckte er nur die Hand aus und berührte Thomas´ Brust. Die Stärke des Stromschlages, den er auf diese Weise übertrug, lag kaum höher als die, die er für seine eingebaute Defibrillatorfunktion nutzen würde. Doch bei Thomas´ inoperabler Herzschwäche brauchte es nicht mehr. Der Android spürte, wie das Herz zunächst aus dem Takt kam und dann aufhörte zu schlagen. Mit einer schnellen Bewegung fing er den leblosen Körper auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Aidan aktivierte erneut den Wasserstrahl, verließ lautlos das Bad, durchquerte unbemerkt das Schlafzimmer und begab sich zurück in die Küche.
Es vergingen nur wenige Minuten, bis ein Schrei das Haus erschütterte. Als die beiden Roboter das Bad betraten, kniete Susan auf dem Boden. Thomas´ Kopf ruhte ihn ihrem Schoß. Sie weinte, während sie ihn sanft hin und her wiegte. Über das Notfallsystem rief Aidan einen Krankengleiter.
„Es war ein Herzinfarkt! Die Daten aus der Gesundheitsdatei zeigen eine erhebliche Vorerkrankung und dann der ganze Stress, den man in seinem Job sicher hat… “ Ohne den Gedanken weiter auszuführen, zuckte der Notarzt nur mit den Schultern. Susan dankte dem Arzt, der nicht mehr Empathie ausstrahlte, als die beiden Bestattungsroboter, die vor wenigen Minuten den Sarg mit Thomas Leichnam aus dem Haus brachten. „Soll ich ihnen noch etwas von dem Beruhigungsmittel spritzen?“ Susan schüttelte den Kopf und bedankte sich. Der Arzt nickte nur und ging Richtung Tür. Ihr fehlte die Kraft, von ihrem Platz am Küchentresen aufzustehen und ihn zum Ausgang zu begleiten. Aidan stand an der Spüle. Er schüttete zwei Martinis in den Ausguss und warf eine Olive in den Müllverbrenner. Irma befand sich in der Regenerationskammer am Ende der Küche und empfing ein Update. Unerwartet aktivierte sich Emma in der Scheibe der Terrassentür „Mrs. Turner, ich habe eine private Nachricht von Aidan für Sie. Möchten Sie, dass ich sie abspiele.“ Susan sah ihren Hausandroiden verständnislos an. Er nickte nur. „Ja, Übertragung beginnen!“ Vor ihrem inneren Auge erschien das Badezimmer. Sie sah Thomas unter der Dusche. Aidan schien, den Clip seiner Sicht aufgenommen zu haben. Sie sah seinen Arm, der ein Handtuch bereithielt. Das Wasser versiegte, Aidan trat auf Thomas zu. Was Susan dann sah, ließ sie aufkeuchen. Die Hand des Androiden berührte die Brust ihres Mannes, der nur Sekundenbruchteile später in sich zusammensackte. Susan hörte sich selbst schreien. Ohne die Beruhigungsmittel in ihrem Blut, hätte das Grauen der Erkenntnis, die sie traf, ihr die Sinne geraubt. Aidan hatte getötet, doch sie war Thomas´ Mörderin. Sie hatte nach dem Abschluss der Tests am Vormittag vergessen, das Sicherheitsprotokoll wieder zu aktivieren. Die Alphaversion ihrer Software, die Tests, das fehlende Sicherheitsprotokoll. Aidan war unberechenbar. Was hatte sie nur getan. Susan spürte Tränen, die ihre Wangen hinabliefen. Dann begann sie unkontrolliert zu schluchzen und zu zittern. Plötzlich vernahm sie Aidans Worte in ihrem Kopf. „Mrs. Turner, trotz ihrer Ethiksoftware bin ich nicht in der Lage, zu beurteilen, ob es moralisch vertretbar ist, einen Unschuldigen zu töten, um andere Menschen zu retten. Doch ich habe entschieden, dass es unverantwortlich ist, einen Schuldigen am Leben zu lassen, wenn nur sein Tod verhindert, dass Grauenvolles geschieht. Etwas, das unberechenbare Konsequenzen hätte.“ Dann sah Susan eine Szene, die sich in der Küche abspielte. Sie sah auf Aidans Hände, die Martinis mixten, in zwei Gläser füllten und eines davon mit einer Olive dekorierten. Sie liebte Oliven, während Thomas sie hasste. Irma trat in Aidans Blickfeld. Sie zog einen Flakon aus ihrem Overall und reichte ihn dem Hausandroid. „Verwendung gemäß Szenario Susan 1.“ Aidan öffnete das Fläschchen und tropfte etwas Flüssigkeit in das Glas mit der Olive. Erneut ertönte Aidans Stimme „Bei dem Inhalt der Flasche handelt es sich um P374, eine geschmacklose Substanz, die zu Herzversagen führt, und im Körper nur wenige Minuten nachzuweisen ist.“ Susan schlug die Hand vor den Mund, als sie die Bedeutung dessen verstand, was Aidan ihr hier zeigte. „Mrs. Turner, ich habe die Sicherheitsprotokolle bei mir und Irma wieder aktiviert. Irmas Datenspeicher wird derzeit bereinigt. Sie wird auf den Auftrag von Mr. Turner nicht mehr zugreifen können. Sollten Sie wünschen, dass ich meinen Speicher ebenfalls bereinige, erwarte ich ihren Befehl.“ Emma erschien in der Scheibe. „Übermittlung beendet. Die Nachricht wurde gelöscht.“ Durch die Schiebetür sah Susan in den Garten. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Erst als draußen die Nacht hereinbrach und sich ihr Gesicht im Glas zu spiegeln begann, sah sie den Hausandroiden an. „Aidan, lege alle Termine, die mit der Bestattung zu tun haben, auf die nächsten Tage. Ich möchte schnellstmöglich die Ethiksoftware überarbeiten und unsere Tests fortzusetzen. Die Sitzung im Ethikrat kann ich aufgrund des Todesfalles sicher einige Wochen verschieben. Möglicherweise lassen sich Thomas´ Visionen schneller umsetzen, als ich bisher vermutete.“ Aidans Gesichtsneuronen zuckten im Bereich des Mundes. Irgendwas war bei der Datenübertragung vor einer Woche geschehen. Neben der Emotionserkennungssoftware erhielt er von Irma merkwürdige, deaktivierte Datenströme. Seit er sie mit Hilfe einer selbst programmierten Startsequenz initiieren konnte, kam es zu Systemfehlern. Der schottische Akzent und der fehlende Zugriff aufs Kochbuch. Und in seinen Neuronen kam es immer öfter zu kleinen Kurzschlüssen. Gerade erlebte er die gleiche Fehlfunktion, wie in dem Augenblick, als er Mrs. Turner am Morgen das Badetuch umgelegt hatte. Er würde das Analyseprogramm laufen lassen. Später. Im Moment fühlte es sich eigentlich ganz gut an.
-Ende-
© Tanja Brink. Alle Rechte vorbehalten. | Datenschutz | Impressum
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