Es fing an mit einem Bildungsurlaub. Jetzt sind wir eine Truppe, die sich einmal im Monat trifft, um Geschichten zu erzählen. Ein Schlagwort war vorgegeben. Keine G. Ein spannendes Experiment.
“So, die Damen. Auf geht´s.“ Die Schiebetür öffnete sich. Mit einem Schwall kalter Luft strömten die ersten Menschen in den Laden. Ich saß bereits an der Kasse. Die Tage zwischen den Jahren bedeuteten immer Stress und Hektik. Erst wurde für die Feiertage gehamstert und kaum ließ das Gänsebratendelirium nach, und die Reihen im Kühlschrank lichteten sich, standen sie schon wieder vor der Tür. Die Menschen konnten es kaum abwarten, um für Raclettekäse, Sekt und Glücksklee die letzten Groschen rauszuhauen. Ich rutschte auf meinem ergonomischen Kassendrehstuhl in eine gemütliche Position, nahm noch einen Schluck Kaffee aus meinem Thermobecker und wartete auf den ersten übervollen Einkaufswagen.
- Lächeln an - „Guten Rutsch“.
Die erste Welle ebbte gerade ab, als ich sah, wie ein Rollator um die Ecke bog. Die ältere Dame am Steuer. Sie parkte, strategisch gut, vor dem Zeitschriftenregal. Ich beobachtete, wie sie ihre Brille auf die Nase schob. Ihr Blick schweifte über Fernsehzeitungen, Groschenromane und Comics. Die schlanke Gestalt im Tweedkostüm musternd, versuchte ich zu erraten, ob sie nach einer Frauenzeitschrift oder einem Rätselheft greifen würde. Faltige Finger entschieden sich für die Bunte. Sie schlug die Zeitschrift auf, überflog das Inhaltsverzeichnis, begann zu blättern und zu lesen.
Ein Teenager baute sich an meinem Kassenband auf. Zwei Red Bull und Wodka.
„Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?“ Wir diskutierten kurz über den Unterschied zwischen Personalausweis und gefälschtem Schülerausweis, bevor ich seine Einkäufe neben meine Kasse stellte und er sich verzog.
Die Dame am Zeitschriftenregal legte gerade die Bunte zurück und griff zur Brigitte. Wieder die gleiche Verfahrensweise. Aufschlagen. Inhaltsverzeichnis prüfen. Blättern. Lesen. Erneut unterbrachen Kunden, oder wie ich sie nenne - Kassenpatienten – meine Beobachtungen. Gerade zog ich ein paar Chickennuggets über den Scanner, als ich die Stimme unseres Filialleiters hörte.
„Sicher haben Sie Verständnis dafür, dass unser Zeitschriftenregal lediglich unser Angebot präsentieren soll. Wir befinden uns hier nicht in einem Lesesaal.“
Die Dame mit dem Rollator, die vom Alter her seine Mutter sein konnte, bedachte Herrn Claasen lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Dann zog sie die Brille von der Nase, streckte den Rücken durch und schob, ohne ein weiteres Wort für meinen Chef, ihren Rollator durch meinen Kassendurchgang.
„Einen guten Rutsch.“ lächelte ich sie an. Sie sah zu mir und lächelte ebenfalls.
Am nächsten Tag sah ich Herrn Claasen den Laden verlassen. Nur einen Augenblick später erschien die Dame vom Vortag. Gleicher Rollator. Gleiches Kostüm. Gleiche Vorgehensweise. Sie begann erneut in den Zeitschriften zu stöbern. Aufschlagen. Suchen. Lesen. Weglegen. Sie war bereits bei den Fernsehzeitungen angekommen, die in Zeiten von Netflix und AmazonPrime nur noch von Personen erworben wurden, die zur Zielgruppe der in den Zeitungen oftmals beworbenen Treppenlifte gehörten, als mein Chef aus seiner Mittagspause zurückkehrte. Um ein erneutes Aufeinandertreffen der lesefreudigen Seniorin und meiner wenig emphatischen Führungskraft zu vermeiden, zischte ich leise in Richtung Zeitschriftenregal. Doch mein Hinweis blieb ungehört. Es gab nur eine Möglichkeit, um eine Eskalation zu vermeiden.
Auch wenn es mir bei einer Frau ihres Alters ungehörig erschien, zielte ich mit einer zusammengeknüddelten Brötchentüte und warf. Mein Geschoss traf die Dame am Arm und sie dreht sich um. Ihre Augen folgten meinem Kopfnicken Richtung Schiebetür. Sie sah, dass der Feind sich bereits durch die Gemüseauslage nähert. Schnell legte sie die Zeitschrift zurück ins Regal und schob durch den Kassenbereich in Richtung der Bäckerei, die unseren Laden ergänzte.
Silvester kam sie kurz vor Ladenschluss. Dieses Mal hatte sie Glück. Der Filialleiter kämpfte mit dem Azubi gegen die Schlage im Getränkemarkt. Der Pfandautomat hatte sich entschieden, das Arbeitsjahr frühzeitig zu beenden und machte nun Kopfrechnen und Handarbeit erforderlich.
In aller Ruhe blätterte meine neue Lieblingskundin durch die noch ungelesenen Zeitschriften im Regal. Wobei sie nur politische Magazine und alles Rund ums Kochen ausließ. Dann verschwand sie für einen Moment aus meinem Blickfeld, da ich als Friedensrichterin benötigt wurde, um eine Vordrängelattacke in meiner Schlange, ohne Blutvergießen zu beenden.
Ich hörte die Durchsage meiner Kollegin, dass wir schließen, als ich sah, dass sich die Dame in Tweed, als letzte Kundin des Jahres, in meine Kassenschlange stellte. Sie legte einen blauen Kugelschreiber und ein bereits preisreduziertes Töpfchen mit Glücksklee auf mein Band. Als ich kassierte, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen. „Na, haben Sie keine Zeitschrift gefunden, die Sie interessiert?“
„In keiner stand, was ich lesen wollte.“ Ich reagierte irritiert. „Was wollten Sie denn lesen?“
„Ich brauche ein Horoskop, in dem steht, dass 2023 endlich alles gut wird. Aber entweder stimmt was mit der Gesundheit nicht, oder die Liebe wird nur lau, oder der Geldsegen bleibt aus.“
„Und was nun?“ Ich reichte ihr den Kassenzettel.
„Jetzt habe ich einen Kugelschreiber.“ Auf dem Schlauch stehend sah ich, wie sie ihn aus der Verpackung nahm und den Kassenzettel umdrehte. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten, als sich sah, was sie schrieb.
„Stier 2023. Alles wird besser!“ Sie hielt mir den Zettel hin. „Sehen Sie. Wenn kein Horoskop passt, dann schreib ich mir eben selbst eins.“ Ich lächelte.
„Und der Glücksklee, der ist für Sie. Weil Sie immer so nett sind. Mein Jahr wird ja jetzt bestens, aber Sie sind sicher nicht Stier. Da werden Sie etwas Glück brauchen können.“ Sie dreht sich um und verschwand durch die Tür. Ich blieb zurück, mit meinem Glücksklee und der Erkenntnis, dass Glück mit der Frage zu tun hat, was man aus den Dingen macht.
Wer sich in sein Schicksal ergibt, legt den Hammer zum Schmieden des eigenen Glücks aus der Hand.
-Ende-
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