Eine kleine, aber wie ich finde feine Geschichte für eine Ausschreibung des Holzhäuser Heckethalers. Thema "Komische Vögel". Auch wenn es keinen Preis gab, so denke ich doch, dass der Kuckuck hübsch genug ist, um Flügel zu bekommen. Viel Spaß damit.

 

Kuckuck!

Er sah auf die Uhr. 18:30h. Der letzte Hausbesuch für heute. Die Füße schmerzten. Er hatte genug. Zuhause würde er einen Tee kochen und sich mit der neusten Ausgabe von „Der Falke“ in den Sessel setzen. Lächelnd dachte er einen Augenblick an seinen geruhsamen Feierabend. Dann klingelte er und wartete, dass die Tür sich öffnete. Währenddessen warf er einen raschen Blick auf den Auftrag. Zweihundertfünfzig Euro zuzüglich seiner Kosten. Keine große Summe. 

Er machte den Job seit über dreißig Jahren, und es war ihm unverständlich, warum Leute für solch einen Betrag den Besuch des Gerichtsvollziehers in Kauf nahmen. Was war aus der guten, alten Zeit geworden, in der die Menschen sparten, bevor sie sich eine Anschaffung gönnten. Während er dieser Überlegung nachging, wurde vorsichtig die Tür geöffnet. Zwischen Zarge und Sicherheitskette erschien in Höhe seiner Brust das runzelige Gesicht einer alten Dame. „Ja, bitte?“, fragte die Frau zurückhaltend, aber höflich. „Guten Abend. Mein Name ist Theodor Sperling, Obergerichtsvollzieher. Ich hatte mich schriftlich angekündigt.“ Die Frau wurde bleich. Kurz befürchtete er, sie würde einen Herzanfall erleiden. Doch stattdessen öffnete sie die Tür und ließ ihn hinein. Nach einem verstohlenen Blick ins Treppenhaus zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. Das kannte er. Wenn es sich um Schuldner älteren Semesters handelte, war der Ruf in der Nachbarschaft immer ein Thema.

Er stand im Flur der kleinen Wohnung. Die Wohngegend war nicht schlecht, doch Luxus war in diesem Teil der Stadt nicht zu erwarten. Er sah die Dame an, die gebeugt an ihm vorbei schlurfte und ihn mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer lotste. Der Tisch vor der Sitzgruppe war mit einer Kanne, zwei Tassen und einer Schale mit Keksen eingedeckt. Bei seinen Stammkunden wurde er nicht so verwöhnt. „Bitte! Nehmen Sie Platz“. Er spürte deutlich, dass ihr sein Hiersein unangenehm war. Er setzte sich, lächelte freundlich und hoffte darauf, dass sich die Spannung etwas löste. 

Eigentlich hatte er eine klare Vorgehensweise, doch aus dem Vollstreckungsauftrag wusste er, dass diese Kundin 1932 geboren war. Fünfundachtzig. So alt wie seine Mutter. Das erforderte ein besonderes Maß an Respekt und Einfühlungsvermögen. Sperling legte die Schreibmappe auf die Knie, öffnete den Reißverschluss und begann, die Unterlagen zu sortieren. 

  „Frau Kleiber, Sie haben bei einem Versandhaus eine unbezahlte Rechnung über zweihundertfünfzig Euro. Nach einem erfolglosen Mahnbescheid kommt es nun zur Vollstreckung. Ich bin hier, um zu prüfen, ob sich pfändbare Gegenstände in ihrem Eigentum befinden. Wenn ich etwas Wertvolles finde, muss ich ein Pfandsiegel anbringen. In ein paar Wochen hole ich die Dinge dann ab und versteigere sie. Mit dem Erlös begleiche ich die Schulden. Verstehen Sie das?“ Sie guckte ihn wortlos an. Das Glitzern in ihren Augen zeigte ihm, dass sie den Tränen nah war. 
  „Und was ist mit dem Vogel?“ fragte sie. Er blickte sie verständnislos an. 
  „Vogel?“ Er nutzte bei den Kunden, denen er ins Gewissen reden wollte, gerne das Bild des kreisenden Pleitegeiers, um das drohende Unheil zu verdeutlichen. Das war hier aber unangebracht. Das konnte sie nicht meinen. 
  „Gerichtsvollzieher kommen doch immer mit einem Kuckuck.“ Er musste trotz der ernsten Umstände schmunzeln.
  „Nein, Frau Kleiber. Kein Kuckuck. Das Pfandsiegel, dass ich auf die Sachen klebe, dass nennt man nur so.“ Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie die Situation überforderte. Er legte beruhigend seine Hand auf ihre. 
  „Wollen Sie mir vielleicht erzählen, wie das alles passiert ist?“ Sie nickte. Unter Tränen sprach sie vom plötzlichen Tod ihres Mannes. Von der Witwenrente, die kaum für das Nötigste reichte. Dass sie die letzte Rate für die Waschmaschine nicht mehr hatte aufbringen können. Sie mochte niemandem davon erzählen und wusste keinen Ausweg. Er hörte ihr wortlos zu. „Altersarmut“, ging es ihm durch den Kopf. Hausfrauen, die nach dem Tod der Männer von der Rente weder leben noch sterben konnten. Minijobber, Zinstief, steigende Mieten und Energiekosten, Pflegenotstand und Grundsicherung. Alles Schlagworte, die jeden Tag in der Zeitung standen. Diese Kundschaft würde zukünftig wahrscheinlich öfter auf seinem Schreibtisch landen. Im Alter würde das Geld bei vielen Menschen nicht reichen. Frau Kleiber tat ihm leid. Sie hatte nicht ungeniert über ihre Verhältnisse gelebt, sondern nur Pech gehabt. Er nahm nicht an, dass es bei ihr etwas zu holen gab. Das Versandhaus würde auf der Forderung sitzen bleiben und den Verlust steuerlich absetzen. Für den Konzern kein Drama. 

Als sie mit der Erzählung endete, hatte sie sich ein wenig beruhigt. Es fiel ihm schwer, das Thema anzusprechen, doch nun musste er sich noch vergewissern, dass es in der Wohnung keine Vermögenswerte gab. In sanftem Ton bat er Frau Kleiber, ihm einen kurzen Blick in die anderen Räume zu gestatten. Peinlich berührt, aber kooperativ zeigte sie ihm die kleine Küche, das abgewohnte, aber penibel saubere Bad und das Schlafzimmer, wo nur eine Seite des Bettes bezogen war. Dieser Anblick war der Inbegriff von Einsamkeit. 
  „Würden Sie mir sagen, was das ist?“, frage er seine Mandantin und deutete mit dem Finger auf einen beigefarbenen Kasten, der unter dem Fenster an der Wand stand. 
  „Das ist meine Nähmaschine. Ich habe als junges Mädchen Schneiderin gelernt und einen Großteil meiner Kleidung nähe ich selbst.“ Ihrer Stimme war die Leidenschaft für das Handwerk anzuhören. Die Maschine hat mir mein Mann geschenkt. Während sie sprach liefen ihr erneut Tränen über das Gesicht. 
  „Darf ich sie sehen!“, fragte Sperling in professionellem Tonfall.
  „Natürlich!“ Frau Kleiber griff nach dem Kasten und legte ihn auf das bezogene Bett. „Singer“ stand auf der Abdeckhaube.  
  „Kennen sie den Wert der Maschine?“ 
  „Genau kann ich es ihnen nicht sagen, aber günstig war sie sicher nicht. Mein Mann war immer großzügig. Er wusste, wie wichtig mir das Nähen ist. Die Maschine kann gut vierhundert Euro gekostet haben. Und sie ist jeden Pfennig wert. Gucken sie mal.“ Stolz reichte sie ihm ein Kissen in Form eines Huhns. Der Stoff war bunt bedruckt, und er fühlte, dass die Füllung aus Kirschkernen bestand. „Niedlich!“, ging es ihm durch den Kopf. Man sah dem Kissen an, dass es mit Liebe und Fachkenntnis gearbeitet worden war. 
  „Das ist für Frau Mertens von nebenan. Sie liebt Hühner und hat es mit dem Rücken.“ Sperling blickte auf das Kissen, dann auf die Nähmaschine und grübelte. Er musste die Maschine pfänden, das war klar. Die Dame würde damit das Letzte verlieren, was Freude in ihr Leben brachte. Er sah die Frau an. 
  „Können Sie nur Hühner? Ich meine, könnten Sie auch Kissen in anderen Formen nähen? Vielleicht Tauben oder Stockenten?“ Sie guckte ihn verständnislos an. 
  „Sicher. Ich brauche nur ein Bild. Dann zeichne ich mir eine Vorlage und nähe die Silhouette nach.“ Er schwieg einen Moment. Die alte Dame sah ihn irritiert an. 
  „Frau Kleiber, ich muss jetzt den Kuckuck auf die Nähmaschine kleben.“ Er sah das Entsetzen in ihrem Gesicht. 
  „Keine Angst. Ich hole das Gerät erst in vier Wochen ab. Wenn sie bis dahin den offenen Betrag zusammen haben, können sie die Maschine behalten.“ Sie schluckte. 
  „Das werde ich nicht schaffen!“, sagte sie hoffnungslos. 
  „Das werden wir sehen!“ Der Obergerichtsvollzieher grinste. 
  „Ich bin im Verein der Vogelfreunde Bergisch Land. Wir haben in drei Wochen Sommerfest. In diesem Rahmen wird es einen Flohmarkt geben. Sie nähen dafür die Vogelkissen und ich besorge ihnen einen Stand. 
  „Ich denke,“ abschätzend wog er das Kissen in der Hand, „für eine qualitativ hochwertige Handarbeit dürfen sie durchaus zwanzig Euro verlangen. Meine Vereinskammeraden und ich sitzen oft im Wald, um Vögel zu beobachten. Meist ist es kalt und feucht. Ich kenne keinen, der nicht über Rückenschmerzen klagt. Die Leute werden ihnen die Kirschkernkissen in Vogeloptik aus den Händen reißen.“ Das „Dafür werde ich schon sorgen!“ sprach er nur in Gedanken aus. Aus dem Gesicht der alten Dame wich die Hoffnungslosigkeit. 
  „Meinen Sie wirklich, mit den bunten Vögeln kann ich den Pleitegeier, den Kuckuck und den Sperling vertreiben?“ Er lachte.     „Frau Kleiber, da bin ich mir ganz sicher!“ Er reichte ihr die Hand und sie drückte sie dankbar. 

 

- Ende -
 

 

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