Entstanden im Rahmen der Ausschreibung #wirschreibenzuhause. Folgende Punkte mussten berücksichtigt werden:
Die Geschichte soll unter dem Thema „Identität“ stehen.
Jemand findet ein fremdes Handy, auf dem er/sie Bilder von sich selbst entdeckt.
Die Hauptfigur hat ein dunkles Geheimnis.
Das Handlungsmotiv des Gegners ist Rache.
Unter dem dunklen Geheimnis leidet der Gegner noch heute.
Die Inspiration für die Geschichte lieferte ein Haushang, den ich am Schwarzen Brett im Edeka auf Borkum sah. Die Geschichte die ich schrieb schaffte es nicht in das Buch, doch das war zweitrangig. Es faszinierte zu erleben, was für unterschiedliche Geschichten entstanden, obwohl alle die gleichen Vorgaben umsetzten. Ein tolles Projekt.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Nur das Weiß des Brautkleides überstrahlte ihr Lächeln. „Daniela, Mama wäre so glücklich.“ Sie drehte sich zu ihrem Vater um und nahm gerade noch wahr, wie er eine Träne wegwischte. Nur zweimal hatte sie ihn weinen sehen. Das erste Mal auf der Beerdigung ihrer Mutter, die inzwischen fast zehn Jahre zurücklag, und das zweite Mal auf der Intensivstation als, … „Und?“ Die Frage der Brautausstatterin riss sie aus ihren Gedanken. „Ja! Das ist es. Das ist mein Kleid!“ „Wunderbar! Dann darf ich Ihnen den hier überreichen.“ Mit einer Miene, die echte Begeisterung ausdrückte, hielt ihr die Verkäuferin einen rosafarbenen Umschlag hin, den Daniela überrascht entgegennahm. Sie öffnete das Kuvert und zog eine Karte aus dickem Karton heraus. „Wenn Du diese Zeilen liest, hast Du das eine Kleid gefunden. Doch mein Glück ist tausendfach größer, dann ich habe die eine Frau gefunden. Stephan.“ Nun schossen Daniela Tränen in die Augen. Besorgt trat ihr Vater auf sie zu, nahm ihr die Karte aus der Hand und las den Text. Beruhigt und gleichzeitig tief gerührt umarmte er seine Tochter. Einen Prosecco später stand Daniela in der Umkleidekabine. Sie schloss gerade den obersten Knopf ihrer Bluse, als ein Klingeln den kleinen Raum erfüllte. Instinktiv ging ihr Griff zur Handtasche, doch dann erkannte sie, dass das Geräusch nicht von dort kam. Daniela sah sich um. Auf einem Tischchen in der Ecke lehnte ein Handy an einer Box mit Kosmetiktüchern. Sie nahm es in die Hand, um es der Verkäuferin zurückzugeben, der es vermutlich gehörte. Ohne sich etwas dabei zu denken, warf sie einen Blick auf das leuchtende Display und erstarrte. Ein Anruf in Abwesenheit von einer unterdrückten Nummer. Doch nicht diese Benachrichtigung verwirrte sie. Es war das Hintergrundbild, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Vorsichtig wischte Daniela über den Bildschirm, um die Nachricht zu löschen und das Foto besser betrachten zu können. Was sollte das denn? Wie kam die Verkäuferin an dieses Bild und warum hatte sie es als Hintergrund auf ihr Mobiltelefon hochgeladen. So sehr Daniela auch überlegte, es wollte ihr keine plausible Erklärung einfallen. Einem unguten Gefühl folgend, öffnete sie die Fotogalerie des Handys. Nichts. Es gab nur diese eine Aufnahme. Mit dem dringenden Bedürfnis nach einer Antwort auf die Fragen in ihrem Kopf, griff Daniela nach ihrer Handtasche und verließ die Kabine in Richtung Kassentresen. „Frau Klaaßen, die Schneiderin könnte die Änderungen in der nächsten Woche vornehmen. Passt Ihnen Mittwoch?“ „Mittwoch? Sicher.“, antwortete Daniela, deren Gedanken noch immer um das Foto kreisten. „Ich glaube, Sie haben Ihr Handy in der Kabine liegen lassen.“ Sie hielt der Brautberaterin das Mobiltelefon hin. „Vielleicht können Sie mir erklären, warum…“ Bevor es Daniela gelang, ihren Satz zu beenden, sah die Verkäuferin kurz von ihrem Terminplaner auf. „Oh, das ist nicht mein Handy.“ Ungläubig starrte Daniela die Frau an. „Dann gehört es sicher einer anderen Kundin.“ Danielas erregter Tonfall ließ die Angestellte erneut einen Blick auf das Telefon werfen. „Es tut mir leid. Das kann nicht sein. Beim Putzen ist mir kein Handy aufgefallen, und Sie sind heute meine erste Beratung.“ Danielas Gedanken fuhren Karussell. „Schatz, alles in Ordnung?“ Ihr Vater, der noch bis vor einigen Augenblicken auf einem Stuhl im Besucherbereich gesessen hatte, schien ihre Verunsicherung zu spüren und stand plötzlich neben ihr. Danielas Herz klopfte bis zum Hals. Was ging hier vor? Wem gehörte dieses Handy und vor allem, warum gab es darauf ein Foto von ihr? Sie erinnerte sich an die Situation, in der die Aufnahme entstanden sein musste. Anfang letzter Woche. Ihre Mittagspause. Sie hatte mit einem Eis im Stadtpark in der Sonne gesessen. Betrachtete man die Perspektive, musste der Fotograf irgendwo in der Nähe der kleinen Brücke gestanden und sie beobachtet haben. Eine gruselige Vorstellung. Doch was Daniela noch viel mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass das Handy hier im Brautmodenladen, in der Umkleidekabine auftauchte. Wer spionierte ihr nach und wie lange schon. Ein Stalker? Woher wusste er von ihrem Termin? Und warum hatte er das Handy liegen lassen? Ein Versehen? Wollte er, dass sie es fand, oder war der Versuch gescheitert, sie während der Anprobe zu filmen? So viele Fragen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Wurde sie vielleicht auch jetzt beobachtet? Ihr Blick ging durch die Schaufensterfront hinaus auf die Straße. Sie bemerkte nichts Außergewöhnliches. „Daniela?“ Die Stimme ihres Vaters klang nun ernsthaft besorgt. Sie sah ihn an und zwang sich zu einem Lächeln, um ihn zu beruhigen. „Alles gut, Papa. Ich überlege nur, was ich nächste Woche noch erledigen muss.“ Unbemerkt ließ sie das Handy in ihre Handtasche gleiten. Die Brautausstatterin schien es bereits wieder vergessen zu haben. Friedrich Klaaßen nickte der Verkäuferin zu. „Immer diese Bräute. Allesamt Nervenbündel.“ “Es ist eben der wichtigste Tag im Leben!” Die Verkäuferin verabschiedete sich freundlichen von ihren Kunden und brachte sie zur Tür. Vor dem Laden gab Daniela ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. „Danke, dass du mich begleitet hast.“ „Es war mir eine Ehre, Prinzessin.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Ich wünschte, deine Mutter hätte hier sein können.“ Zum Abschied küsste er sie auf die Stirn. Ihr Blick folgte ihm, als er die Straße hinunterging. Wann würde er endlich mit der Vergangenheit abschließen. Ein Signalton und ein Brummen lenkten Danielas Aufmerksamkeit auf ihre Handtasche. Die Erinnerung an das fremde Handy kehrte zurück. Mit zitternden Händen fischte sie es heraus. Vorsichtig sah sie sich um. Die Fußgängerzone war gut besucht, doch ihr fiel niemand auf, der sich für sie zu interessieren schien. Daniela sah auf das Mobiltelefon. Es zeigte an, dass eine MMS eingegangen war. Mit einem Kloß im Hals öffnete sie die Bilddatei. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Sie sah ihr Schlafzimmer. Aufgenommen von der Tür aus. Sie lag in Unterwäsche auf dem Bett. Schlafend. Ihre Gedanken rasten. Dieses kranke Arschloch war bei ihr eingebrochen und hatte… Moment, das konnte nicht sein. Danielas Gedanken gerieten ins Stocken. Das passte nicht. Sie zog das Bild mit den Fingern größer und betrachtete den Ausschnitt genauer. Sie trug auf dem Foto BH und Slip. Beides gehörte ihr, da war sie sich sicher, doch sie schlief nie darin. Schon seit ihrer Teenagerzeit schlief sie nackt. Damals um ihre Mutter zu ärgern und inzwischen aus Gewohnheit. Es war ihr Zimmer. Ihr Bett. Auf dem Nachttisch stand die Fotografie von Stephan. Daniela zog das Foto soweit auf, wie es ging und überprüfte die Konturen des abgebildeten Körpers. Das war eindeutig sie. Aber wie konnte das sein? Diese Szene hatte es so nie gegeben. Woher kam das verdammte Smartphone, und wer schickte ihr ein gefaktes Foto? Und warum? So sehr Daniela auch überlegte, sie fand keine Erklärung. In Gedanken mit dem Handy und den Fotos beschäftigt, machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Als sie die Wohnung betrat, saß er an der Küchentheke und wandte ihr den Rücken zu. Lautlos ließ sie die Tür ins Schloss gleiten, trat hinter hin, schlang die Arme um seinen Körper und flüsterte ihm ins Ohr. „Ich habe den einen Mann gefunden!“ Stephan drehte sich auf dem Barhocker zu ihr um und zog sie an sich. Sein Kuss war leidenschaftlich. Als sie sich voneinander lösten, grinste er sie an. „Und? Ist es so, wie man es im Fernsehen immer sieht. Hat das Kleid mit Dir gesprochen?“ Daniela wusste, dass er sie aufzog, weil sie mit Begeisterung diese Sendungen sah, bei der Bräute beim Kauf eines Brautkleids von der Kamera begleitet wurden. „Ihr Männer versteht das einfach nicht.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften, um der Aussage mehr Deutlichkeit zu verleihen. Eine Sekunde später ließ sie die Arme wieder sinken, legte den Kopf schief und lächelte ihren Verlobten selig an. „Es war wie im Märchen, und ich bin die Prinzessin. Wenn Du lieb bist, darfst du mein Prinz sein.“ Sie zwinkerte ihm vielversprechend zu. Ein bekannter Handyton verkündete den Eingang einer Nachricht und ließ das Knistern, das in der Luft lag, verschwinden. Augenblicklich kehrten Danielas Gedanken zu dem fremden Telefon zurück, das Stephans Kuss sie für einen Moment hatte vergessen lassen. „Nicht schon wieder!” Danielas Stimme erklang in einer Mischung aus Wut und Angst. Sie griff in die Tasche, die neben ihr auf dem Boden stand und zog das Handy heraus. „Hast Du ein Neues?” Ohne Stephan zu antworten öffnete Daniela die eingegangene MMS. Erneut erschien ein Bild von ihr. Dieses Mal stand sie in Minirock und Tanktop im Badezimmer. Sie blickte ausdruckslos in die Kamera. Die Augen dunkel geschminkt. Das verschmierte Rot des Lippenstifts erweckte den Anschein, als liefe ihr Blut aus dem Mund. Daniela stieß vor Schreck einen Schrei aus und ließ das Handy fallen. Stephan sprang von seinem Hocker auf und schaffte es gerade noch, seine Verlobte aufzufangen, bevor ihre Knie ihr den Dienst versagten. Vorsichtig schob er sie auf seinen Barhocker, zog die Wodkaflasche aus dem Wandregal, schraubte sie auf und hielt sie ihr hin. „Hier, trink!“ Sie tat, was er sagte. „Schatz, mein Gott, was ist denn los?“ Er hob das Telefon vom Boden auf und sah auf das Display. „Und was ist das für ein Foto?“ Es dauerte eine ganze Weile bis sie Fassung und Stimme wiederfand. „Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht. Das Ding“, sie zeigte auf das Mobiltelefon, „habe ich im Brautmodengeschäft in der Umkleidekabine gefunden. Ich dachte, es gehört der Verkäuferin. Tut es aber nicht. Als Hintergrundbild ist ein Foto von mir eingestellt.“ Sie nahm das Smartphone aus seiner Hand und zeigte ihm das Bild. „Weil mir die Sache komisch vorkam, habe ich es eingesteckt. Vor dem Landen bekam ich plötzlich eine MMS.“ Sie zeigte ihm auch das zweite Bild. Er zog die Augenbrauen hoch. „Wer hat das gemacht?“ Sie spürte Eifersucht in seinen Worten und reagierte genervt und wütend. „Das versuche ich dir gerade zu erklären. Ich habe keine Ahnung, wer mir die Bilder schickt.“ Sie drückte eine Taste und das dritte Foto erschien erneut. „Die Situationen, die sie zeigen, hat es nie gegeben. Oder glaubst du, dass ich ein solches Foto von mir machen lassen würde.“ Daniela flossen Tränen der Wut und der Angst über die Wangen. Stephan legte ihr den Arm um die Schultern. Einen Moment lang erfüllte Schweigen den Raum. “Wir gehen jetzt sofort zur Polizei.“ Stephan klang entschlossen. Danielas wacher Verstand kehrte zurück. Polizei? Das wollte sie auf gar keinen Fall. Nicht nach dem letzten Bild. „Und was sag´ ich denen? Dass ich ein Handy gefunden habe, auf das mir in Irrer Fakefotos schickt? Da kommt doch nur ein Werfen sie das Ding einfach weg! und der Fall ist für die erledigt.” „Liebling, das Psychoterror!”, er deutete auf das Handy in ihre Hand, “Die können herausfinden, von welcher Nummer die Fotos kommen und diesen verrückten Stalker aus dem Verkehr ziehen.“ Sie hielt ihm erneut das Telefon hin. Ungläubig sah er zuerst auf das Display und dann zu Daniela. „Das ist deine Handynummer!“ Sie nickte stumm. Schon als die erste Nachricht einging, hatte sie einen Blick auf die Daten des Absenders geworfen. Angeblich stammten die MMS von ihrem eigenen Telefon, das ausgeschaltet tief unten in ihrer Handtasche lag. „Scheiße!“ „Ja, Scheiße!“ Wieder ein Moment der Stille. „Gut, ich habe verstanden, dass du nicht zu Polizei möchtest, aber was willst du dann machen?“ Daniela griff erneut nach der Wodkaflasche und nahm einen tiefen Schluck.“ „Ich werde kein Opfer sein! Ich rufe jetzt Miriam an. Die ist Grafikdesignerin und kennt sich mit Bildbearbeitung aus. Ihr aktueller Lover ist so ein Nerd. Zusammen mit den beiden schnappe ich mir dieses Schwein.“
Eine Stunde später saß Daniela auf dem Sofa ihrer besten Freundin. “Du musst mir helfen, dieses Arschloch zu erwischen!” Danielas Bericht hatte Miriam schockiert. Zum wiederholten Male sah sie sich inzwischen die Bilder auf dem Handy an. „Maus, den kriegen wir. Das verspreche ich. Ich packe das Ding jetzt ins W-LAN. Dann lade ich die Fotos auf meinen Rechner hoch, und Sascha kümmert sich per Remote um den Absender.“ Miriams Worte strahlten Professionalität und Selbstsicherheit aus. Daniela atmete hörbar auf. Mit der Hilfe ihrer Freundin musste es gelingen, diesen miesen Typen ausfindig zu machen und ihm gehörig in den Arsch zu treten. Die Aktion würde ihm richtig leid tun. Die Zeit verging und Miriams Zornesfalte grub sich immer tiefer in ihr Gesicht. Auch Danielas Anspannung stieg mit jeder Minute. Das unerwartete Klingeln von Miriams Smartphone ließ sie zusammenzucken. „Mein Gott, du bist ja wirklich ein Nervenbündel! So kenn ich dich gar nicht.“ Mit einem besorgten Blick auf ihre Freundin nahm Miriam das Gespräch an. „Sascha! Und?“ Daniela hörte zwar eine Stimme am anderen Ende der Leitung, verstand aber kein Wort. „Ja. Klar. Lieb von Dir. Bis später.“ Miriam drückte das Telefonat weg und sah Daniela mitleidig an. „Also, Sascha ist ausgezählt. Die Nachrichten stammen natürlich nicht von deinem Handy. Doch das wussten wir ja schon. Er hat versucht, hinter die richtige Nummer des Absenders zu kommen, aber die gehört zu einem Prepaid-Handy aus so ‘nem Import-/Export-Laden. Da gibt niemand seine korrekten Daten an. Sackgasse!“ Miriam atmete tief ein. „Und ich befürchte, bei mir sieht es auch nicht besser aus. Das Bild aus dem Stadtpark ist auf jeden Fall echt. Keine Überraschung. Doch auch bei den anderen Fotos gibt es keinen Hinweis, dass sie zusammengebastelt oder bearbeitet wurden. Weder ein unsauberer Farbverlauf, noch irgendwo eine Stelle mit Weichzeichner. Es gibt keinen einzigen, falschen Pixel. Nichts. Wenn du dir absolut sicher bist, dass es diese Szenen nie gab, dann muss jemand mit einem Model und einer verdammt guten Maske gestellte Fotos in deiner Wohnung aufgenommen haben. Möglicherweise hat er sich sogar die Mühe gemacht, ein Fotoset nachzubauen, um die Bilder zu schießen.“ Daniela dachte noch über Miriams Worte nach, als erneut ein Klingeln ertönte. Dieses Mal kam der Ton nicht vom Telefon, das neben der Tastatur lag. Daniela wurde blass. Wie in Trance ging sie zum Wohnzimmertisch, griff nach dem dort liegenden Handy und öffnete die frisch eingegangene MMS. Miriam folgte ihr, erhaschte noch einen kurzen Blick auf das Foto und bekam große Augen. Genug Zeit für einen Gedanken blieb ihr nicht. Danielas hysterisches Kreischen erfüllte den Raum. Sie packte ihre Freundin an den Schultern und schüttelte sie. Erfolglos. Erst eine heftige Ohrfeige löste die Szene auf. Tränen flossen über Danielas Wangen. Miriam schloss ihre völlig aufgelöste Freundin in die Arme, hielt sie fest und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Mein Gott, wer tut dir so was an?“ Es dauerte einige Zeit, bis Daniela wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, doch dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube. Wenn alle möglichen Lösungen unmöglich sind, ist das Unmögliche die einzig mögliche Lösung. Daniela spürte, wie nach und nach Kraft und Entschlossenheit zurückkehrten. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Vergangenheit sie einholte. „Da spielt mir jemand einen ganz bösen Streich und es ist an der Zeit, das zu beenden.“ Miriam war anzusehen, dass sie nicht verstand, was vor sich ging, als ihre Freundin sich aus der Umarmung löste, ohne ein weiteres Wort ihre Tasche nahm und die Tür hinter sich ins Schloss zog.
„Frau Klaaßen, es ist schön, sie zu sehen. Sie waren lange nicht mehr bei uns.“ „Ich weiß, es tut mir leid.“ Daniela lächelte schuldbewusst. „Ich liebe meine Schwester, doch ich ertrage es kaum, sie so zu sehen. Ich bin froh, dass Saskia bei Ihnen so gut aufgehoben ist.“ Die Miene der altgedienten Pflegekraft drückte Mitgefühl und Verständnis aus. „Ja, es ist schrecklich. Inzwischen ist schon so viel Zeit vergangen und es gibt doch keine Veränderung. Diese Form von Depersonalisations- und Derealisationssyndrom habe ich noch nie bei einem Patienten erlebt. Der physische Zustand ist gut, doch die Seele scheint wie weggesperrt. Tag für Tag liegt Saskia apathisch im Bett und starrt an die Decke. Die Ärzte versuchen alles, um sie zu aktivieren. Einer unserer psychologischen Doktoranden bemüht sich ganz besonders um ihre Schwester, doch auch er findet keinen Zugang. Das Trauma sitzt zu tief.“ „Mutters Unfalltod. Vaters Vorwürfe. Der Moment, als er ihr sagte, er könne ihre Gegenwart nicht mehr ertragen. Es hat mir das Herz gebrochen, hilflos zuzusehen, wie Saskias Seele zerbrach. Ihr Suizidversuch. Die Zeit im Koma. Die Angst, sie zu verlieren. Als sie aufwachte, der Glaube daran, dass alles wieder gut würde. Doch nichts ist gut. Mir fehlt einfach oft die Kraft, hierher zu kommen.“
Die Pflegerin bemühte sich, ihre Stimme hoffnungsvoll klingen zu lassen. „Frau Klaaßen, geben Sie nicht auf. Wir tun es auch nicht. Es ist gut, dass Sie auch an sich denken. Sie sind jung. Sie müssen ihr Leben weiterleben.“ Daniela lächelte die Stationsschwester an. „Danke für Ihren Trost. Sie haben Recht, auch wenn es mir schwerfällt und ich Saskias Lachen so sehr vermisse.“ „Dann lassen Sie uns mal nach ihr sehen.“ Schwester Gertrud nahm einen schweren Schlüsselbund von einem Brett an der Wand und schlurfte in Richtung der ersten Gittertür. Fünf Minuten später stand Daniela in dem weiß gestrichenen Krankenzimmer ihrer Schwester. Die Ausstattung der Zimmer auf der geschlossenen, psychiatrischen Station war spartanisch. Es gab nichts, das sich dazu eignete, als Waffe gegen sich oder andere eingesetzt zu werden. Dass Daniela noch im Besitz ihrer Handtasche war, ließ sie sich nur mit dem gefahrlosen, wachkomaähnlichen Zustand ihrer Schwester, oder der altersbedingten Vergesslichkeit der Pflegekraft erklären. Den größten Raum im Krankenzimmer nahm das Bett ein. Wie auf einer solchen Station üblich, befanden sich am Bettgestell Klettgurte, um randalierende Patienten notfalls fixieren zu können. Den Fernseher umgab ein Plexiglas-Kasten. Völlig sinn- und tonlos flackerten alte Folgen von Tom und Jerry über den Bildschirm. Daniela trat ans Bett ihrer Schwester. Saskias Gesicht blieb ausdruckslos. Ihre Augen starrten bewegungslos zur Decke. Daniela betrachtete die Frau, die vor ihr lag. Ihr war, als sähe sie in einen Spiegel. Zwillinge. Selbst für ihre Mutter kaum zu unterscheiden. Gleich und doch so verschieden. Die Pflegerin stand auf der anderen Seite des Bettes und streichelte ihrer Patientin über das Gesicht. „Guck mal, Saskia. Ganz lieber Besuch.“ Sie reichte Daniela einen kleinen Sensor. „Ich gehe jetzt. Bitte drücken sie einfach, wenn ich sie abholen soll.“ Daniela lächelte dankbar und nickte. Als sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss knackte, ließ sie noch einige Minuten vergehen. „Hallo, Sassi, Schatz. Du siehst gut aus. Deine Haare bräuchten mal wieder eine Wäsche. Und einen Fön.“ Saskia zeigte keine Regung. Kein Zucken. Kein Blinzeln. „Du kannst dir das Theater sparen. Ich weiß, dass du mich hörst.“ Langsam zog Daniela das Handy aus der Tasche. „Das da bist du!“ Sie hielt ihrer Schwester das Telefon mit dem Foto, das sie in Miriams Wohnung erhalten hatte, direkt vor die Augen. „Du bist die einzige, die weiß, was damals im Badezimmer wirklich geschehen ist.” Keine Reaktion. Danielas Wut steigerte sich. „Du Miststück!“ Daniela zog die Bettdecke ein Stück herunter und kniff ihrer Schwester in den Busen. Saskia reagierte nicht. Die harte Ohrfeige, die folgte, ließ ihren Kopf zur Seite schlagen und hinterließ einen roten Handabdruck auf der Wange. Ansonsten zeigte der Schlag keinerlei Wirkung. „Ich habe keine Ahnung, wie du das machst, und wer dir hilft, aber es ist die einzige Erklärung und ich werde nicht zulassen, dass du mein Leben zerstörst.“ Eine erneute Ohrfeige klatschte in Saskias Gesicht und wurde reglos hingenommen. „Gut, wenn du dich totstellst, dann will ich dir gerne helfen diesen Zustand auch tatsächlich zu erreichen.“ Danielas Finger schlossen sich bereits um Saskias Kopfkissen, als sie ein Klicken vernahm. Nur einen Augenblick später öffnete Schwester Gertrud die Tür. „Frau Klaaßen, wir haben Schichtwechsel. Während der Übergabe dürfen sich keine Besucher im Haus aufhalten. Ich muss sie leider bitten, zu gehen. Der Pflegerin war Bedauern anzuhören, jedoch duldete ihre Ansage keinerlei Widerspruch. „Kommen Sie doch morgen wieder.“ Daniela bemühte sich, ihre Selbstbeherrschung zurückzuerlangen und lächelte. „Natürlich!“ Sie wandte sich in Richtung des Krankenbettes. „Wir sehen uns bald wieder!“
Hilflos und vor Wut schäumend verließ Daniela die Klinik. Sie würde sich gleich morgen um Saskias Verlegung bemühen. Dieses Biest konnte die ganze Sache nicht alleine durchziehen. Jemand musste ihr beim Verlassen der Klinik und beim Erstellen der Fotos helfen. Sie mochte nicht darüber nachdenken, wer inzwischen alles die Wahrheit kannte. Sie hielt am Straßenrand und zog das Handy aus der Tasche. Das letzte Bild hatte sich längst in ihr Gedächtnis gebrannt, doch es war wie bei einem schlimmen Autounfall. Sie musste immer wieder hinsehen. Das Foto zeigte erneut das Badezimmer. In der mit Wasser gefüllten Wanne lag eine Puppe. Vor der Wanne stand Saskia. In Minirock und Top. Geschminkt wie für eine Party. Mit Smokey Eyes und rotem Lippenstift. In ihrer Hand hielt sie einen Fön. Das Bild ließ Danielas Erinnerung zurückkehren. An das alte Bauernhaus und den Abend vor fast zehn Jahren. Das Leben mit ihrer Mutter war die Hölle. Partys, Abhängen mit ihren Mädels, ein Freund. Alles verboten. Und dauernd machte Mama sie nieder und bestrafte sie wegen Kleinigkeiten. Daniela hasste ihr Leben. Sie hasste ihre Mutter. Sie war sechzehn. Alt genug, um selbst zu entscheiden. Der Abend sollte ein Neubeginn sein. Sie würde auf diese Party gehen, kostete es, was es wollte. Im Partyoutfit betrat sie das Badezimmer. Ihre Mutter lag in der Wanne und Saskia, das ewig brave Mauerblümchen, föhnte sich am Waschbecken die Haare. Daniela hob die Stimme und rief: „Ich geh jetzt!“ Ihre Mutter rollte mit den Augen. „Nein, mein Schatz, wir haben darüber gesprochen. Du gehst nirgendwo hin und so schon mal gar nicht. Du siehst aus wie eine kleine Bordsteinschwalbe.“ Dann hörte Daniela ihre Mutter lachen. Hämisch. Gehässig. Laut. In diesem Moment sah sie rot. Sie riss Saskia den Fön aus der Hand und blickte in die erst ungläubigen und dann angsterfüllten Augen ihrer Mutter, deren gesamter Körper sich schon im nächsten Augenblick unter dem Stromschlag zusammenkrampfte. Saskia schrie auf und brach ohnmächtig zusammenbrach. Als ihr Vater Sekunden später ins Bad stürzte, sah er seine tote Frau in der Badewanne und die bewusstlose Saskia in Danielas Armen. In den nachfolgenden Monaten hatte Daniela niemals das Gefühl von Schuld verspürt. Ihre Mutter, dass herrschsüchtige Biest, hatte es nicht besser verdient. Was Saskia betraf, so war es eine Fügung des Schicksals, dass der Schock ihre Erinnerung an den Vorfall auslöschte. Als Friedrich Klaaßen der Polizei erzählte, dass Saskia versehentlich der Fön in die Wanne gefallen sein musste, hatte Daniela lediglich zustimmend genickt. Mehr war gar nicht notwendig. Traumatisierte Teenager wollte niemand befragen. Das es ihrem Vater nicht gelang, Saskia das vermeintliches Missgeschick zu vergeben und er den Anblick seiner Zweitgeborenen nicht mehr ertrug, damit hatte Daniela nichts zu tun. Dennoch, sie genoss sie es, seine alleinige Prinzessin zu sein. Sie verschwendete nur selten einen Gedanken an das, was damals vorgefallen war, oder an ihre nervige Schwester in dieser ekelhaften Klinik. Mit Mutters Tod hatte Danielas Leben erst begonnen. Und sie würde alles dafür tun, dass ihr Leben blieb, wie es war.
Fest entschlossen startete Daniela den Wagen und fuhr nach Hause. Sie schloss die Wohnungstür auf. Noch bevor ihre Hand den Lichtschalter erreichte, spürte sie den Einstich. Den sicherlich noch schmerzhafteren Aufschlag auf dem Fußboden bemerkte sie hingegen nicht mehr.
Dem klatschenden Geräusch folgte der Schmerz. Daniela riss die Augen auf, um sie sofort wieder zu schließen. Die Helligkeit des Raumes war unerträglich. Ein weiterer Schlag traf erneut ihre Wange. „Schwesterherz!“ Wie vom Donner gerührt öffnete Daniela die Augen und sah in Saskias Gesicht. Eine Woge der Wut ergriff sie. Sie versuchte, die Hand zu heben, um zurückzuschlagen, doch es gelang ihr nicht. Weder Arme noch Beine ließen sich bewegen. Schlagartig wurde ihr klar, wo sie war. Die Klinik. Saskias Krankenbett. Fixiert mit den Klettbändern. Ihre Wut wich Angst. „Saskia, bitte, hör mir zu.“ „Halt‘s Maul! Ich will nicht zuhören. Ich habe Euch allen viel zu lange zugehört. Papa, der mich für Mutters Tod verantwortlich macht und für den ich gestorben bin. Dir. Deinen ach so tröstlichen Worten, die immer mit dem Hinweis endeten, dass du an meiner Stelle nicht mit der Schuld leben könntest. Den Ärzten, die alles ausprobierten, um mich aus meiner Isolation zu holen. Immer musste ich zuhören. Dann kam endlich jemand, der mit mir geschwiegen hat. Der mir Zeit und Ruhe gönnte, bis die Erinnerung zurückkehrte und der mir zuhörte, als ich meine Sprache wiederfand. Eine zweite Person tauchte in Danielas Blickfeld auf. „Hallo, Daniela!” Daniela starrte ihn an wie einen Geist. Stephan. Ihr Stephan. Sein breites Grinsen versetzt ihr einen Stich ins Herz. „Daniela, darf ich dir meinen Verlobten vorstellen. Den leidenschaftlichen Kuss, den die beiden tauschten, sah Daniela durch einen Schleier aus Tränen. “Er ist übrigens kein Krankenpfleger. Er ist Doktorand in dieser Klinik.” Jetzt ergriff Stephan das Wort. “Und ich freue mich, dass wir Saskias Therapie heute endlich abschließen können. Dank des Handy-Spiels, das wir uns ausgedacht haben, konnte sie ihre Gefühle erkennen und auszuleben. Wut, Hass und Zorn wollen wahrgenommen werden. Das ist wichtig, um die Emotionen loszulassen. Rache ist in diesem Land leider gesellschaftlich geächtet, aber aus medizinischer Sicht ist es ein sehr heilsames Hilfsmittel.“ Danielas Hirn arbeitete auf Hochtouren. Ihr scheinbar zufälliges Kennenlernen. Sein Bemühen um sie. Der Heiratsantrag. Alles Fake. Natürlich war es ihm als betreuendem Therapeuten problemlos möglich gewesen, mit Saskia die Klinik zu verlassen und die Fotos aufzunehmen. Unter dem Vorwand, eine Nachricht für sie abzugeben zu wollen, war er im Brautmodenladen erschienen und hatte unbemerkt das Handy in der Umkleide deponiert. Den Versand der MMS musste Saskia übernommen haben. Der Plan war bis ins Kleinste durchdacht, und sie hatten ihn über Monate Schritt für Schritt durchgeführt. Daniela begann, zu schreien und an ihren Fesseln zu reißen. „Mach dir nicht die Mühe. Stephan ist heute Abend der Betreuer für diese Abteilung. Du kannst schreien so viel wie du willst, niemand wird dich hören.“ Daniela liefen Tränen der Hoffnungslosigkeit über die Wangen. Sie ahnte längst, was passieren würde, doch sie wollte es nicht wahrhaben. „Was soll ich tun? Soll ich ein Geständnis abgelegen? Soll ich Papa die Wahrheit sagen?“ Sie wandte sich direkt an ihre Zwillingsschwester. „Was willst Du?“ Saskia beugte sich zur ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. „Was ich will? Leben! Dein Leben!“
Sie saß dem Leiter der Klinik, Dr. Rudolf Moser, und dem betreuenden Psychologen, Stephan Berger, im Konferenzraum des Krankenhauses gegenüber. „Unser herzliches Beileid zum Verlust ihrer Schwester, Frau Klaaßen. Wir sind untröstlich und werden den Hergang lückenlos aufklären. Wir gehen derzeit davon aus, dass ihre Schwester sich die Pulsadern mit einem scharfkantigen Medikamentenblister aufgeschnitten hat, den sie unbemerkt einer Pflegerin entwenden konnte.“ Damit lag er fast richtig, doch er ahnte sicher nicht wie mühsam, schmerzhaft und langwierig diese Prozedur gewesen war. “Danke, Dr. Moser. Letztlich kann man wohl niemanden aufhalten, der sein Leben nicht mehr will.“ Sie stand auf und verabschiedete sich von den beiden Männern. Als sie Stephan Berger die Hand reichte, durchzuckte sie die Erinnerung an seine Finger, die ihre Brüste streichelten. Sie liebte ihr Leben.
-Ende-
© Tanja Brink. Alle Rechte vorbehalten. | Datenschutz | Impressum
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