Der Anfang meiner Schreiberei. Entstanden im Rahmen der Ausschreibung für das Buch "Moorgezeiten".  Das Thema Moor fasziniert mich als Emsländerin und Irlandfan seit geraumer Zeit. Die Bekanntschaft mit dem Herausgeber machte Mut, eine Idee auf Papier zu bringe. Seine Unterstützung eröffnete den Zugang zu einer wunderbaren Welt.

An dieser Stelle: Danke Dirk, für Deine Unterstützung und dass Du mich Autorin genannt hast. Ich erwähne Dich in meiner Laudatio zum Literaturnobelpreis. Versprochen! ;O)

Schutzengel

„Was soll ich denn in Irland?“, maulte ich ins Telefon.
„Jetzt komm mal wieder runter, Bea. Ich schätze deine Arbeit sehr, aber für den Bildband sind mir ein paar bunte Blätter einfach zu wenig.“
Ich stand am Flughafen von Boston und hielt ein Ticket nach Dublin in der Hand. Walter, mein Verleger, hatte den Flug einfach umgebucht.
„Herzchen, Dublin liegt fast auf dem Heimweg. Die paar Tage sind doch kein Problem.“
Ich kochte. „Ich hab nicht mal die richtigen Klamotten für den Abstecher. Wir haben fast 20 Grad und ich steh hier im T-Shirt.“ Während ich das sagte, bemerkte ich selbst, wie dünn die Ausrede war.
„Bea, bitte! Du bist eine Frau. Du weißt doch wie shoppen geht.“
Ich konnte Walters Grinsen vor mir sehen. „Okay, aber nur zwei Tage. Und die Spesen gehen extra.“
„Bea, Schatz! Für Dich ist mir nichts zu teuer. Denk bitte dran, ich will was Mystisches. Die Bilder vom Indian Summer sind toll, aber ich hätte gerne eine Überleitung zum Winter. Ich stell mir da ein von Nebelschwaden überzogenes Moor vor. Du und Dein fotografisches Auge, Ihr bekommt das schon hin.“
Ich holte Luft, aber bevor meine nächste Schimpftirade auf Walter niedergehen konnte, hatte er schon aufgelegt. „Er hätte mich wenigstens fragen können“, murmelte ich vor mich hin.
Bis zum Abflug war noch Zeit. Ich schnappte mir Handtasche und Fotoausrüstung und suchte mir einen freien Platz in einem Café. Einen Espresso genießend, sah ich mir auf dem Kameradisplay die Arbeit der letzten Tage an. „Was für Farben“, dachte ich begeistert. Von einem Hauch Orange bis zu einem blutigen Rot war alles dabei. Die Fotos waren der Inbegriff dessen, was man sich unter leuchtendem Herbst vorstellte. „Vielleicht hat Walter Recht.“, brummte ich leise. Es wäre für das Auge des Betrachters nicht rund, wenn sich an ein Bild mit knall bunten Blättern direkt eine Schneelandschaft anschließen würde.
Walter hatte einen Nachtflug gebucht. Kaum hatte ich es mir auf dem Fensterplatz gemütlich gemacht, war ich auch schon eingeschlafen. Fünf Stunden später rüttelte eine Stewardess sanft an meiner Schulter. „Entschuldigung, stellen Sie bitte den Sitz aufrecht. Wir landen.“. Ich blinzelte verschlafen. Meiner Laune hatte der Schlaf gut getan. Die bereits aufgegangene Sonne und der Blick auf die smaragdgrüne Landschaft unter mir taten ihr Übriges.
Nach der Landung machte ich mich mit meinem Gepäck auf den Weg zum Mietwagenverleih. Wenn Walter wieder mal ohne Rückfrage über mein Leben verfügte, sorgte er wenigstens für eine gute Organisation. Mit dem Autoschlüssel in der Hand und den Daten meines B&B auf dem Handy verließ ich das Terminal. „Gott, ist das kalt“, bibberte ich, sobald ich im Freien stand. Meine Sommerjacke und das T-Shirt waren eindeutig ungeeignet für das irische Klima. Ohne Zögern drehte ich mich auf dem Absatz um. Zehn Minuten später steckte ich in einer Strickjacke aus irischer Schafwolle und war erneut auf dem Weg zum Mietwagen.
Nur eine Sekunde lang stand ich neben einem in die Jahre gekommenen Opel Corsa, bevor ich mit den Augen rollte und lachte. Das eben noch so schmerzlich vermisste Lenkrad befand sich natürlich auf der anderen Seite. Die Erkenntnis, dass ich mein fahrerisches Können gleich im Linksverkehr beweisen musste, verpasste mir eine Gänsehaut. Ich verstaute das Gepäck und programmierte das Navigationsgerät auf Ballycroy.
„Dann mal los“, sagte ich laut, um mir Mut zuzusprechen. Gemächlich ging es durch den ersten Kreisverkehr Richtung Westküste. Die erste Stunde benahm ich mich wie ein lebendes Verkehrshindernis und blinkte mehrfach mit dem Scheibenwischer. Das Verlassen der Autobahn, das übersichtliche Verkehrsaufkommen und die kleinen Straßen, auf dem es kein Links oder Rechts, sondern nur ein Mittig gab, erleichterten mir die Eingewöhnung. Ohne besondere Vorkommnisse tuckerte ich durch die Landschaft. Die sanften Hügel, der blaue Himmel, auf dem sich nur ein paar Schäfchenwolken tummelten und vor allem die unendlichen Nuancen von Grüntönen nahmen mich gefangen.
Während im Autoradio irische Folk Music dudelte, hing ich meinen Gedanken nach. Der von Walter verursache Umweg war ein Erlebnis. Das würde ich ihm aber nicht sagen, wenn am Freitag die Fotos und eine saftige Spesenabrechnung auf seinem Tisch landeten. Ein Schmunzeln erschien auf meinen Lippen. Plötzlich tauchte in meinem Augenwinkel etwas Weißes auf. Ich zuckte zusammen und trat in letzter Sekunde auf die Bremse. Die Reifen quietschten und das ABS zitterte unter meinen Füßen. Der Corsa kam keinen halben Meter vor zwei Schafen, die völlig tiefenentspannt auf die Straße liefen, zum Stehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, während die Schafe mich im Weitertrotten nur eines kurzen Blickes würdigten, nichts ahnend davon, dass sie nur knapp dem Tod entgangen waren. Ich atmete tief durch. „In Irland gibt es gefährliche Tiere!“
Die 300 km von Dublin nach Ballycroy kosteten mich fast fünf Stunden. Ehe ich das Ortschild richtig wahrnahm, lag der Ort auch schon hinter mir. Eine Kirche, ein Friedhof, ein Pub mit Tante-Emma-Laden und drei Häuser bekamen in Irland also schon einen Ortsnamen inklusive Schild. Bei der Auswahl an Gebäuden war das B&B schnell gefunden. Ein kleines, weiß gekalktes, windschiefes Haus, das aussah, als gehörte es in ein Freilichtmuseum. Die Wirtin, eine ältere Dame in geblümter Kittelschürze, begrüßte mich mit warmen Worten, von denen nur ein Bruchteil dem Englischen zu entstammen schien. Mit Mühe verstand ich, dass sie mir ihr bestes Zimmer vorbereitet hatte.
Von der Fahrt erschöpft und da die Möglichkeiten des Sightseeings wenig vielversprechend waren, gab es eine heiße Dusche und ein Schläfchen.
Als ich ein paar Stunden später wach wurde, fielen bereits die Strahlen des Vollmondes in mein Zimmer. Mein Magen verlangte nach Abendessen. Ich verzichtete darauf, Frau Wirtin nach einem Restauranttipp zu fragen und entschied mich direkt für das Cleary´s. Als einziger war er bestimmt auch der beste Pub des Dorfes.
Ich hatte noch keinen Schritt durch die rot gestrichene Tür getan, als mich bereits ein Großteil der Dorfgemeinschaft, die sich abends hier aufzuhalten schien, neugierig beäugte. Eine allein reisende Frau, außerhalb der Saison, glich scheinbar einem Naturphänomen. Ich suchte mir einen ruhigen Tisch, zog die Jacke aus und wartete auf die Bedienung. Kaum hatte mich im Schankraum umgesehen, als auch schon eine pralle Rothaarige vor mir stand. Sie begrüßte mich und sagte freundlich aber bestimmt, dass die Küche seit zehn Minuten geschlossen sei, sie mir aber noch einen Shephards Pie aufwärmen könne. Lächelnd nahm ich ihr Angebot an und bestellte zusätzlich ein Guinness. Wenig später brachte die irische Schönheit Essen und Bier. Beides war viel besser als erwartet. Gut gesättigt lehnte ich mich entspannt zurück.
Auf diese Haltung hatte ein älterer Mann an der Theke nur gewartet. Er kam an meinen Tisch. „Darf ich mich zu Ihnen setzten?“, fragte er höflich.
„Sehr gerne“, antwortete ich lächelnd, in der Hoffnung, für das morgige Shooting noch einige Tipps von einem Eingeborenen zu bekommen.
„Mein Name ist Eamonn O´Malley. Ich bin Ortsvorsteher in Ballycroy.“
„Beatrice Maler, Fotografin und auf der Suche nach stimmungsvollen Landschaftsaufnahmen. Ihr Nationalpark soll dafür der ideale Ort sein.“ Während wir sprachen, war der Geräuschpegel im Cleary´s drastisch gesunken. Nicht nur Eamonn lauschte meinen Worten.
„Oh, um diese Jahreszeit wollen Sie ins Moor? Da kann es ganz schön ungemütlich werden. Lassen Sie sich nicht davon täuschen, dass es heute noch so sommerlich war.“
Nachdenklich fuhren meine Fingern über die neue Strickjacke. „Ach, ich bin da nicht zimperlich“, entgegnete ich selbstbewusst.
"Und Angst vor Geistern haben Sie bestimmt auch nicht“, kam es aus Richtung Theke. Die strahlend grünen Augen eines attraktiven Mittvierzigers, der an der Bar lehnte, musterten mich kritisch.
“Wollen Sie mir Angst machen?“, fragte ich provozierend.
“Nein, aber Sie sind hier in Irland. Im Land der Druiden, der Leprechauns und der Elfen. Hier geschehen Dinge, die sich nicht so einfach erklären lassen.“
„Der Typ sieht gar nicht danach aus, als würde er an Geister glauben“, ging es mir durch den Kopf. “Ach, dann erzählen Sie mal eine ihrer Gruselgeschichten“, forderte ich ihn heraus.
„Für Sie hab ich etwas Romantisches.“ Sein Blick blieb ernst. „Vor vielen Jahren machte sich in einer Vollmondnacht ein Mann auf den Weg zu seiner Verlobten. Seine Liebe war so groß, dass er es nicht erwarten konnte, bei ihr zu sein. Er nahm die Abkürzung durchs Moor und obwohl er sich auskannte, wurde er nie wieder gesehen. Seine Verlobte konnte nicht ohne Ihren Geliebten leben und starb wenig später an gebrochenem Herzen. Noch heute sieht man in Vollmondnächten eine junge Frau im Totenhemd durchs Moor wandern und den Namen ihres Geliebten rufen“, erzählte er mit tiefer, eindringlicher Stimme. Als er endet trat Stille ein.
“Oh, und Sie haben die Frau auf dem Weg vom Pub nach Hause schon oft gesehen?“
Sein Grinsen, das ich als Lohn für meine schlagfertige Parade erwartet hatte, blieb aus. “Glauben Sie es, oder lassen Sie es“, brummelte mein Erzähler genervt und würdigte mich keines weiteren Blickes.
“Lassen Sie sich von Sean nicht verunsichern,“ sagte Eamonn, an mich gewandt. „Die Menschen hier lieben ihre Mythen und Geschichten.“
“Nichts geht über gute Geschichten, aber ich glaube an nichts, was sich nicht fotografieren lässt", entgegnete ich unnachgiebig.
Eamonn und ich plauderten noch etwas und er versorgte mich mit Tipps für den morgigen Ausflug. Nachdem Essen und Bier bezahlt waren, verabschiedete ich mich. Der Mann an der Bar war bereits gegangen.
Wer das Morgengrauen erleben will, muss bekanntlich vor dem Sonnenaufgang aus dem Bett. Die Morgenstimmung im Moor versprach dramatische Fotos.
Bevor ich das Haus verlassen konnte, drückte mir meine Wirtin ein paar alte Gummistiefel in die Hand. „Mit den Turnschuhen gehen Sie mir nicht ins Moor“, nuschelte sie und klang ein bisschen wie meine Mutter.
Ich schlüpfte in die zu großen Stiefel und machte mich mit meinem Auto auf den Weg zum Ballycroy National Park. Im Wagen lief die Heizung auf höchster Stufe. Trotzdem blieben die Scheiben beschlagen. Walter hatte sogar das richtige Wetter bestellt.
Es dämmerte langsam und Nebelschwaden zogen durch die Landschaft. Vom Visitor Centre aus startete ich auf dem Holzbohlenweg Richtung Moor. Die aufsteigende Feuchtigkeit ließ mich frösteln. Die Gegend wirkte unecht. Der Nebel strich durch die Äste eines toten Baumes, der wie ein dürrer Geist anmutete. Ich dachte an Sean, den Typen vom Vorabend, und seine Geschichte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass man nach ein paar Guinness diesen Baum für eine Frau auf der Suche nach ihrem Liebsten halten konnte. Völlig gegen die Regeln des Nationalparks verließ ich den Steg und ging ein paar Schritte ins Moor hinein. Der Weg, der sich am Horizont in den Nebelschwaden verlor, wäre ein ideales Bild für das Buch.
Bei jedem Schritt hörte ich ein Schmatzen unter den Stiefeln. Immer wieder einsinkend, hatte ich einige Mühe, die zu großen Stiefel an den Füßen zu behalten. „Nur schnell ein paar Fotos und dann fix wieder zurück,“ murmelte ich und begann leise vor mich hin zu summen. Nicht nur die menschenleere Umgebung wirkte einschüchternd. Auch die Stille war bedrückend.
Plötzlich platschte hinter mir etwas auf den feuchten Boden. Sofort stellten sich die Härchen auf meinen Armen auf. Noch bevor ich mich ganz umgedreht hatte, zerriss lautes Gebell die Stille. Ich schrak zusammen. Doch was ich sah, ließ mich durchatmen. Es war nicht der Hund von Baskerville, sondern nur ein mittelgroßer, schwarzweiß gescheckter Vierbeiner, der bellte und mit dem Schwanz wedelte.
„Du hast mich ganz schön erschreckt. Was machst du denn hier?“, sagte ich ruhig, aber mit klopfendem Herzen, während ich in die Hocke ging und ihm meine Hand hinhielt. Er kam auf mich zu und schnupperte. Unversehens glitt seine Zunge über mein Gesicht. „Iiiihhhh, nee, nicht“, kicherte ich und wischte mit dem Ärmel der Strickjacke darüber. „Wo ist denn Dein Herrchen?“ Ich griff zur Kamera, um ein Foto von meinem hübschen Besucher zu schießen.
Kaum hatte ich den Auslöser gedrückt, sprang das Tier an mir hoch und zerrte an der Jeans. “Was ist denn los?“ Immer aufgeregter sprang der Hund hoch, lief ein paar Schritte weiter Richtung Moor und kam zurück, nur um mich erneut anzuspringen. Meine Hose war inzwischen von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. „Du benimmst Dich wie Lassie, wenn er Hilfe holen wollte.“ Wie zur Bestätigung äußerte das Tier ein lautes „Wuff, wuff."
Langsam wurde mir mulmig. Vielleicht war dem Besitzer tatsächlich etwas passiert. Trotz des Nebels folgte ich ihm ein paar Schritte. Das quittierte er mit Gebell und heftigem Schwanzwedeln. Er wollte scheinbar wirklich, dass ich ihn begleitete. Aber ich konnte doch bei dem Nebel und im Halbdunkel nicht einfach in der Gegend rumstolpern. Ich kannte mich nicht aus und beim letzten Schritt war ich bereits knöcheltief eingesunken. Ich blickte zurück zum Weg und stellte erschrocken fest, dass dieser schon viel weiter entfernt war, als ich gedacht hatte. Noch ein paar Schritte und der Weg würde im Nebel nicht mehr zu sehen sein. Was tun, dem Hund folgen, der vorgelaufen war und sich immer wieder umsah, um sicherzugehen, dass ich noch hinter ihm war, oder vielleicht zurück ins Dorf und Eamonn informieren?
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. War das ein Schrei? Die Gänsehaut kroch meinen Nacken hoch. Wieder war etwas zu hören. Eindeutig. Ein Rufen. Heiser und angstvoll. Ich suchte mit den Augen die Moorfläche ab. Nichts. Nicht mal der Hund. Hoffentlich war er nicht in eines der Moorlöcher gerutscht, deren Wasserspiegel jetzt überall glitzerten. Wieder das Geschrei. Rief da jemand meinen Namen? Die Geistergeschichte vom Vorabend fiel mir ein. „Jetzt werd nicht hysterisch", schimpfte ich, sah mich um und kniff die Augen zusammen, um im wabernden Nebel etwas zu erkennen. War das ein Arm? Ja, da winkte jemand. Ich ging weiter in die Richtung, in der ich die Person vermutete. Immer unsicher, ob das nächste Stück Grund mich tragen würde, tastete ich mich vor. Die Wasserlöcher umgehend, gelangte ich zu der Stelle, an der der Arm aus dem Nebel gewunken hatte. Ich bekam große Augen, als mir klar wurde, wer an diesem einsamen Morgen mit mir in dieser menschenfeindlichen Gegend war. Sean. Er steckte bis zur Hüfte im Moor und sah hilfesuchend zu mir hoch.
„Gott sei Dank hast Du mich gehört“, seufzte er erleichtert.
„Was machst Du hier?“ Ich starrte ihn ungläubig an.
„Ich hab einen Spaziergang gemacht und bin an einer Wurzel hängengeblieben. Der Fuß ist wahrscheinlich gebrochen. Ohne die Kraft im Fuß ging es nicht weiter und als ich mich setzte, bin ich direkt eingesunken.“ Er wurde rot.
Das Ganze wirkte merkwürdig auf mich. „Los, es ist tierisch kalt. Du kannst da nicht bleiben. Bis zum Auto ist es nicht weit.“
Mit vereinten Kräften schafften wir es, Sean wieder auf seine Füße zu stellen. Inzwischen waren wir beide voller Schlamm und ich zitterte vor Kälte. Er hängte sich auf meine Schulter.
Die Zähne zusammen beißend pustete ich: „Du bist ganz schön schwer.“
„Sorry“, flüsterte Sean zerknirscht und griff nach seinem Rucksack, der noch am Boden stand.
Der Weg musste irgendwo hinter uns sein, aber der Nebel hatte zugenommen und ich sah mich ängstlich um, ohne etwas zu erkennen. Überall gab es nur noch schwammigen Moorboden und Nebel.
„Mach Dir keine Gedanken. Wir müssen da lang!“
Im Zeitlupentempo bewegten wir uns. Sean auf meine Schulter gestützt und ich mit dem Arm um seine Taille. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir den Holzbohlenweg. Ohne das wabbelige Gefühl unter den Füßen ließ es sich besser, wenn auch nicht schneller gehen. Ich brauchte meine gesamte Kraft, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Als wir am Auto ankamen, atmete ich durch, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah Sean wütend an. „Sag mal! Läufst Du immer im Morgengrauen quer durchs Moor? Was wäre wohl passiert, wenn der Hund Dich nicht gefunden und mich nicht zur Hilfe geholt hätte?“ Zornig öffnete ich die Beifahrertür. „Jetzt setz Dich endlich rein. Wir müssen ins Warme.“
Sean sah mich schuldbewusst an, griff in seinen Rucksack und reichte mir ein großes, weißes Laken. „Das kannst du über die Sitze legen, damit wir deinen Wagen nicht völlig versauen“, sagte er kleinlaut.
Es brauchte einen Moment bis ich verstand. „Du wolltest mich reinlegen. Du hast mein Gespräch mit Eamonn gehört und wolltest mein persönlicher Poltergeist werden!“. Ich versetze ihm einen kräftigen Knuff in die Seite und musste grinsen. „Tja, das war es wohl mit den irischen Geistern. Ich habe eben doch Recht“, trällerte ich siegesbewusst.
Sean wurde feuerrot und schwieg. Auf dem Weg zurück ins Dorf sah er mich von der Seite an. „Was war das eigentlich vorhin mit dem Hund? Ich habe gar keinen Hund gesehen.“
Ich erzählte von meiner Begegnung mit dem Tier, von dem Aufstand, den der Kleine gemacht hatte und davon, dass er verschwunden war, kurz bevor ich Seans winkenden Arm gesehen hatte.
Sean sah mich ernst an. „Hm. Freilaufende Hunde sind im Nationalpark nicht erlaubt. Wie sah er denn aus?“
„Das war so ein mittelgroßer in schwarz weiß. So einer, wie die Schäfer ihn haben.“
„Ein Border Collie?“
„Genau, so heißen die.“
Seans Augen wurden dunkel und verengten sich. „Hatte er einen weißen Fleck direkt über der Nase?“
„Du kennst das Tier?“, fragte ich neugierig.
„Halt an!“
Seans Ton erschreckte mich. Sofort stoppte ich am Straßenrand. „Was ist?“
Sean griff in seine Jacke und holte einen Flachmann heraus. Erst nahm er einen großen Schluck, dann reichte er mir die Flasche.
„Hey, ich muss fahren.“
„Nimm, Du wirst es brauchen“, sagte er in einer Art, die keine Widerrede erlaubte. „Ja, ich kenne den Hund. Das war Toby. Es war mein Hund.“
„Das hättest du gleich sagen können.“ Ich rollte die Augen. „Dann ist er bestimmt nach Hause gelaufen“, sagte ich zuversichtlich.
„Nein, Beatrice, dass ist er sicher nicht! Toby war ein Geschenk meiner verstorbenen Frau. Sie hat ihn mir vor drei Jahren geschenkt, als klar war, dass sie den Krebs nicht überstehen würde. Sie meinte, er würde immer auf mich aufpassen, wenn sie nicht mehr da sein könnte, um das zu tun.“
“Wow“, rutschte es mir heraus und ich fühlte einen Kloß im Hals. “Das hat er prima gemacht. Da hat er sich eine Extrawurst verdient“, entgegnete ich optimistisch, um die Stimmung aufzuhellen.
“Beatrice, hör mir zu!“, fuhr Sean mich an. “Toby ist vor einem halben Jahr angefahren worden. Er ist tot!“, presste Sean mit ernster Miene hervor.
„Du willst mich wieder reinlegen. Das kannst Du vergessen! Ich hab den Hund fotografiert“, gab ich lauter als nötig zurück. Ich klemmte den Flachmann zwischen die Knie und griff nach meiner Kamera, die auf der Rückbank lag. Ich wusste noch, dass das Foto mit dem Hund direkt nach dem Foto kam, das ich vom Weg aufgenommen hatte. Mit angehaltenem Atem klickte ich die Fotoreihe durch und mein Gesicht verlor jede Farbe. Ich schluckte trocken, legte die Kamera auf den Schoß und griff nach dem Flachmann. Es musste ein ordentlicher Schluck sein. Der Whiskey brannte in meiner Kehle wie Feuer, reichte aber nicht, um das flaue Gefühl im Magen zu beruhigen.
Wortlos hielt ich Sean die Kamera so hin, dass er auf das Display sehen konnte. Dort wo auf dem Foto der Hund zu sehen sein sollte, war lediglich eine Nebelbank, die hell leuchtete. Es sah aus, als hätte man direkt in den Dunst fotografiert, der sich vor die Sonne geschoben hatte. Von einem Tier war absolut nichts zu erkennen. Ich nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann, sah Sean an, reichte ihm die leere Flasche und löschte wortlos das Bild von der Kamera.

 

-Ende-

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