Eine wahre Geschichte. Aufgeschrieben aus Dankbarkeit. Gewidmet zwei besonderen Menschen, die sich in mein Leben verstrickt haben.

Zwei links, zwei rechts.

Sie sah so zerbrechlich aus. In den letzten Wochen überschlugen sich die Ereignisse. Seit feststand, dass es ihre letzten Tage sein würden, raste die Zeit. Doch es blieb genug, um Abschied zunehmen. 

Längst war alles gesagt. Geschichten ihres Leben füllten die Seiten eines Buches. Familienrezepte wurden weitergegeben. Alle offenen Fragen, sofern es überhaupt noch welche gab, waren beantwortet.
Doch wie verbringt man nun die letzten gemeinsamen Tage mit einem geliebten Menschen? Wenn alles gesagt und getan ist? Wie findet man passende Worte? Wie verhält man sich richtig? Gibt es das überhaupt? Das richtige Verhalten? Was sollte ich tun? Die Situation überforderte mich. Sie machte mir Angst.

"Die Nachtschwester strickt Socken. Ihr schenke ich mein altes Handarbeitsbuch. Du willst es ja wahrscheinlich nicht." Ich verspürte Bedauern, weil ihr das Buch so viel bedeutete und und ich damit nichts anfangen konnte. Ich hatte durchaus das ein oder andere von meiner Mutter geerbt, doch ihre Begeisterung für Stricken erschloss sich mir nicht. Ihr Handarbeits-Gen schien den Wettlauf um die Aufnahme in meine DNA verloren zu haben. Mehr als ein paar gehäkelte Topflappen für meine Oma brachte ich nicht zustande. Ich konnte mit dem gut gehüteten Buch meiner Mutter tatsächlich nichts anfangen. Besser, es landete bei Jemandem, der es zu schätzten wußte, als dass es in meinem Bücherschrank ehrfurchtsvoll vergilbte.

"Woher weißt Du denn, dass die Sochen strickt?" "Sie hat gestern Abend eine ganze Zeit an meinem Bett gesessen und gestrickt, während wir uns unterhielten." Ich hörte ihre Begeisterung. "Ich bin erst ganz spät eingeschlafen." Die Augen meiner Mutter leuchteten. Die gestrige Nacht, schien ihr viel Spass gemacht zu haben. "Du darfst das aber keinem erzählen, dass die Schwester während der Arbeit an meinem Bett sitzt und strickt." Ich versprach zu schweigen.

Einige Tage später wurden die klaren Momente meiner Mutter weniger. Ich entschied mich, die Nacht im Hospiz zu verbringen. Dabei traf ich auf die Nachtschwester. Im Laufe der Nacht kamen wir ins Gespräch. Ich erzählte ihr, dass ich mich freute, dass sie das Handarbeitsbuch meiner Mutter bekam, und ich verriet ihr, dass meine Mutter befürchtete, dass es Ärger gäbe, wenn herauskäme, dass die Schwester in der Nacht am Bett der Bewohner saß und Socken strickte. Die Frau lachte. "Ich habe all unsere Gäste gut im Auge. Manchmal braucht es etwas mehr, als medizinische Versorgung oder körperliche Pflege. Ich verstand, was sie meinte. In dieser Nacht, am Bett meiner Mutter, ging es beim Stricken von Socken nicht um Nadelgrößen, Muster oder warme Füße. Diese kurze Zeit hatte ein Herz gewärmt und einer Seele Geborgenheit geschenkt. Jede Masche, jedes gesprochene Wort hatte in dieser unbeschreiblich düsteren Situation für ein Gefühl von Normalität und sogar Vertrautheit gesorgt. Die gemeinsame Leidenschaft für Wolle half, Ängste und Sorgen zu überwinden. Ein Lebensfaden, der immer dünner wurde, bekam noch einmal den Glanz von Seide. Diese Schwester hatte viel mehr, als nur ihren Dienst getan.

Heute, Monate später, halte ich ein Paar Socken, deren Wolle aus dem Nachlass meiner Mutter stammt, in meiner Hand. Ein Geschenk. Gestrickt von eben jener Nachtschwester. Jede Masche eine Erinnerung. An die Momente, in denen meine Mutter ihr Strickzeug in der Hand hielt. An schöne Zeiten. An die Augenblicke, als ich mit den Augen rollte, weil ich einen neuen, selbstgestrickten Pullover bekam. Und eine Erinnerung an die letzten Tage im Hospiz. Als die Augen meiner Mutter ein letztes Mal voller Begeisterung leuchteten. Als ich erlebte, dass es in schweren Zeiten keine große Worte braucht. Schon mit einem leisen "zwei links, zwei rechts" kann man die Welt verändern.

 

-Ende-

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