Märchen sind einfach wunderbar. Eine Kindheitserinnerung. Vielleicht geht es Euch auch so. Hier etwas für Euch zum Einschlafen. Träumt was Schönes!
Die Tränen liefen ihr über das schmutzige Gesicht. Dass ihre Eltern an der Grippe gestorben waren, war schlimm genug, aber dass ihr das Geld fehlte, um Mutter und Vater auf dem Kirchhof beerdigen lassen zu können, brach ihr fast das Herz. Niemand wollte ihr bei dem Begräbnis helfen. Alle hatten Angst sich anzustecken. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Gräber selbst auszuheben, ihre geliebten Eltern unter Aufwendung aller Kraft hinein zu betten und unter Tränen die Ruhestätten wieder zuzuschaufeln. Jetzt saß sie, erschöpft und völlig verzweifelt, vor den Erdhügeln.
Auch wenn der Pfarrer keine Worte gesprochen hatte, sollte es doch ein wenig feierlich werden. Vom vielen Weinen heiser, begann sie leise zu summen. Ein Lied, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Aus dem Summen wurden Worte. Leise, aber unendlich schön. Es klang, als würden hunderte Glöckchen leise klingen. Sie war allein, und doch blieb der Gesang nicht ungehört. Auf einer alten Eiche in der Nähe saß ein tiefschwarzer Vogel. Er hielt den Kopf schief, als lausche er der Melodie. Als der letzte Ton verklungen war, flog der Vogel auf und kreiste lautlos ein paar Mal über der Müllerstochter, bevor er sich auf einem der Gräber niederließ.
„Was willst Du?“, herrschte sie den Vogel an, der ihr unheimlich war. Sein Krächzen schien fast eine Antwort zu sein. Sie wedelte mit den Händen und versuchte, ihn zu vertreiben. Er flog kurz auf, setzte sich dann aber wieder.
„Sicher bist Du das schlechte Omen für meine Zukunft. Mein Vater ist tot. Wie soll ich die Mühle betreiben? Wovon soll ich leben?“, sagte sie zu dem Vogel, als würde er ihre Worte verstehen.
„Ich kann Dir helfen!“, antwortete unerwartet eine Stimme. Erschrocken sah das Mädchen sich um. Aber es war niemand in ihrer Nähe. Sie musste sich die Worte eingebildet haben. „Doch meine Hilfe ist nicht umsonst.“ Die Stimme, die klang als würde Kreide über eine Wandtafel quietschen, schien aus dem Vogel zu kommen. Sie rieb sich die Augen. „Also, was bekomme ich, wenn ich Dir helfe, Dein Heim zu behalten und gut von Deiner Hände Arbeit leben zu können?“. Die Müllerstochter konnte nicht glauben, dass der Vogel zu ihr sprach. Ihre Mutter hatte ihr viele Geschichten erzählt und selbstverständlich konnten die Tiere darin sprechen, aber dies war keine Geschichte und sie keine Prinzessin. Der Vogel ließ ein paar Minuten vergehen.
„Sprich mit mir oder ich fliege davon und Du kannst in der Gosse elend zu Grunde gehen.“ Das Mädchen nahm seinen gesamten Mut zusammen, streckte den Rücken und sah den Vogel an.
„Was hast Du zu bieten?“.
„Hör zu. Ich bin ein Vogel mit besonderen Kräften. Ich kann Dir das Talent schenken, eine gute und erfolgreiche Müllerin zu werden. Die Bauern werden Dich achten und sich nicht wundern, dass ein junges Mädchen eine Mühle betreibt. Du wirst ein sorgenfreies Leben führen können.“ Die Müllerstochter war klug. Sie hörte das „Aber“ in den Worten des Vogels mitschwingen.
„Und was willst Du für Deinen Dienst?“
„Du hörst es selbst. Ich habe ein tiefschwarzes Gefieder von großer Eleganz, aber mein Gesang verschreckt die Menschen. Ich möchte so schön singen können wie Du. Schenk mir Deine Stimme.“ Das Mädchen fuhr zusammen.
„Meine Stimme? Soll ich stumm sein?“
„Ich sorge dafür, dass Deine Geschäfte gut gehen. Du lebst hier allein. Mit wem willst Du reden?“. Eine Träne rann dem Mädchen über die Wange. Aber welche Wahl blieb ihr?
„Also gut. Ich gebe Dir meine Stimme, wenn Du mein Leben lang dafür sorgst, dass ich ein Heim und einen Laib Brot besitze.“
„So soll es sein!“ Der Vogel stieg in die Luft, umflatterte das Mädchen drei Mal und schrie laut. Dem Mädchen wurde schwindelig. Bevor sie ohnmächtig wurde, hörte sie den großen Vogel wunderschön singen.
„Mädchen, was ist mit Dir?“ Eine Hand rüttelte grob an ihrer Schulter. Sie sah auf und blickte in das Gesicht eines Bauern, der seine Ernte mahlen lassen wollte. Sie wollte ihm sagen, dass ihr Vater gestorben sei und sie nichts für ihn tun könne, doch aus ihrem Mund kam kein Laut. Der Bauer wunderte sich zwar ein wenig, wollte aber, dass die Arbeit getan wurde. Er zog sie daher vom Boden auf und schob sie Richtung Mühle. „Los, rasch ans Werk. Ich will vor Sonnenuntergang zu Hause sein.“ Wie im Rausch begann das Mädchen die Arbeit des Müllers zu verrichten. Das Korn in die Schütte und schon bewegten sich die Mühlsteine. Während der Arbeit erinnerte sie sich an das Treffen mit dem Zaubervogel und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte. Sie konnte die Mühle betreiben und gut davon leben. So sehr ihr auch Worte und Gesang fehlen würden, es schien ein guter Tausch gewesen zu sein.
Einige Jahre vergingen. Die Müllerstochter lebte gut von ihrer Arbeit. Die Menschen in der Umgebung kannten das fleißige Mädchen und mochten sie. Keiner der Bauern hatte jemals versucht sie zu übervorteilen. Niemand wunderte sich, dass sie eine Mühle betrieb und seit dem Tod ihrer Eltern plötzlich nicht mehr sprechen konnte. Eines Tages kam ein Bäckergeselle ins Dorf und fand Arbeit in der Backstube. An seinem ersten freien Tag wanderte er durch die Wiesen und Felder, bis er an den Bach und die Mühle kam. Da sah er sie. Das Mädchen mit den blonden Locken und der anmutigen Gestalt. Schon von Weitem gefiel sie ihm. Es war, als strahle sie von innen. Er ging zu ihr und sprach sie an.
„Fräulein Müllerin, so fleißig?“ Sie lächelte, antwortete aber nicht. „Magst Du nicht mit mir sprechen?“ Ihr Blick wurde traurig, und wortlos ließ sie ihn stehen. Er sah ihr nach und fühlte sich plötzlich einsam und allein. Ein Stück von ihm würde immer an diesem Ort stehen und ihr hinterhersehen. Die Liebe hatte von ihm Besitz ergriffen. Bedrückt ging er zurück ins Dorf und erzählte seinem Dienstherrn von der Begegnung.
„So, die Müllerstochter hat es Dir angetan. Ja, ein hübsches Ding!“, lächelte der Bäcker. „Aber seit dem Tod ihrer Eltern hat sie kein Wort mehr gesprochen.“ Kurz blieben seine Gedanken bei dieser tragischen Geschichte hängen. Dann prustet der Bäcker los und schlug seinem Gesellen auf die Schulter: „So eine Frau wünscht man sich an seiner Seite, was? Kein Gejammer, keine Vorwürfe. Immer hat man seine Ruhe.“
Dem Bäckergesellen war nicht zum Lachen. Er hatte sich in die Müllerin verliebt. In ihr Gesicht, ihren Glanz, ihre Anmut, ihre Ausstrahlung. Aber wollte sie ihn auch? Und könnten sie ohne Worte miteinander leben? Nie würde sie ihm sagen können, wie es ihr ging, wovon sie träumte und was ihr Angst machte. Nie würde er wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Aber ohne sie wollte er auch nicht sein. Die Frage, was er machen sollte, quälte ihn über Wochen. Fast jeden Abend ging er zur Mühle. Dann saßen sie wortlos nebeneinander am Bach. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hätte so viele Worte gehabt, konnte aber nicht sprechen.
Eines Abends war er wieder auf dem Weg zu Mühle, als er ein wunderbares Singen hörte. Es schien aus den Bäumen zu kommen. Er folgte den Tönen, weil er sehen wollte, wer ein so schönes Lied singen konnte. Er kam an eine dicke Buche, auf der ein schwarzer Vogel saß und sang. Ein kleiner Junge stand am Fuß des Baumes und spielte mit einer Steinschleuder. Ehe der Geselle den Jungen davon abhalten konnte, legte dieser auf den Vogel an und schoss. Der Stein traf den Vogel, der sogleich aus den Ästen fiel.
„Was machst Du da?“, schrie der Bursche den Jungen an.
„Kein Vogel kann so schön singen. Der muss mit dem Teufel im Bunde sein. Deshalb will ich ihn töten“, gab der Junge zur Antwort. Der Bäckergeselle hob die Hand und schritt auf den Knaben zu. Der nahm die Beine in die Hand und lief davon. Der junge Mann sah sich auf dem Waldboden um. Nur ein paar Schritte entfernt lag der Vogel mit einem gebrochenen Flügel. Der Geselle hob Tier auf und nahm es mit nach Hause. Dort schiente er den Flügel und versorgte den Vogel. Eines Abends, als der Bäckergeselle den genesenen Vogel wieder frei lassen wollte, hörte er plötzlich eine glockenhelle Stimme.
„Vielen Dank für Dein Mitgefühl und Deine Hilfe. Wie darf ich mich bei Dir bedanken?“ Entgeistert starrte der Bursche auf den Vogel.
„Hast Du das gesagt?“ Der Vogel bewegte den Kopf wie bei einem Nicken.
„Ich bin ein Zaubervogel, und Du hast mir das Leben gerettet. Damit hast Du einen Wunsch frei, den ich Dir erfüllen werde.“ Der Bäckergeselle rieb sich die Oberlippe.
„Einen Wunsch habe ich frei? Sowas. Was wünsche ich mir denn am meisten?“. Plötzlich war da ein Strahlen in den Augen des Burschen. „Lieber Vogel, Du hast eine so schöne Stimme. Schenke sie der Müllerstochter, damit sie endlich wieder singen und lachen kann. Das Wichtigste in meinem Leben ist ihr Glück.“ Der Vogel stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Aber ihm blieb keine Wahl. Er hatte sein Wort gegeben.
„So soll es sein“, waren die letzten Worte, die der Bäckerbursche von dem Vogel hörte, bevor dieser seine Flügel ausbreitete und davon flog.
Die Sonne war fast schon untergegangen, aber der Bäckergeselle musste wissen, ob sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen war. So schnell er konnte, lief er zur Mühle. Das Mädchen saß am Bach. Im Wasser spiegelte sich der Mond. Er setzte sich zu ihr und griff nach ihrer Hand.
„Bitte, sprich mit mir.“ Sie schüttelt traurig den Kopf. „Tu mir den Gefallen. Bitte sag mir, was dir am meisten auf der Seele brennt. Versuch es!“ Sie sah ihn an, öffnete den Mund und sagte „Ich liebe Dich!“. Überrascht schlug sie die Hände vor den Mund, als sie ihre Stimme hörte. Nun hatte er keine Worte mehr. Er nahm sie in den Arm und wollte sie nie mehr los lassen. Und wenn sie nicht gestorben sind, sitzen sie noch heute eng umschlungen unten am Bach.
-Ende-
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